Seine einzige Versuchung
die Hochzeitsnacht angesprochen haben mochte, wurden von Gedanken an Benthins plötzlich so reserviertes Benehmen und den merkwürdigen Brief abgelöst, bis sie schließlich in einen unruhigen Schlaf fiel. Mehrmals wachte sie in der Nacht auf und wusste nicht sofort, wo sie war. Ihr war kalt. Einmal bildete sich sogar ein, Geräusche an der Tür zu hören. Doch sie wagte es nicht, nachzusehen. Alles war so fremd und unheimlich. Sie wünschte, Benthin wäre hier bei ihr, um sie zu wärmen und im Arm zu halten. Seine unterkühlte Haltung während der Kutschfahrt und die leidenschaftslose Verabschiedung zur Nacht bereiteten ihr Sorge. Gleichwohl entsprach es nicht ihrer Natur, so schnell aufzugeben. Sie war überzeugt, dass der neue Tag alles in einem anderen Licht darstellen würde.
Wie versprochen zeigte Benthin Elli am nächsten Morgen zunächst das Haus. Er blieb zu ihrem Bedauern auch während des Rundgangs ebenso verschlossen und zurückhaltend wie am Abend zuvor, obwohl sie unter sich waren. Elli war dennoch erfreut, ein modernes Badezimmer mit fließendem Wasser vorzufinden, was zur damaligen Zeit längst nicht in allen Haushalten üblich war. Sie brachte ihre Begeisterung zum Ausdruck. Benthin berichtete ihr von dem desolaten Zustand des Raumes, der vor seinem Einzug als Abstellraum genutzt worden war. Sein Wunsch nach einem zeitgemäßen Badezimmer hatte es notwendig gemacht, den Raum komplett zu renovieren und nach dem neuesten Stand auszustatten. Da in den Städten ohnehin mehr und mehr Wasserleitungen Einzug in die Häuser erhielten, hatte er sich beizeiten für moderne Anschlüsse im Haus entschieden. Die Anschaffung war zwar kostspielig, ersparte auf die Dauer aber Personal, das rund um die Uhr zur Verfügung stehen musste, um frisches Wasser herbeizuschleppen und gebrauchtes wieder zu entsorgen, wie es noch in Ellis Elternhaus üblich war.
Auch die Küche war entsprechend ausgestattet, was die Arbeitsabläufe dort erheblich erleichterte. Die übrigen Räume waren weniger modern, aber sehr gepflegt und zweckmäßig. In der kalten Jahreszeit wurde mit Kachelöfen geheizt, im Wohnzimmer gab es einen offenen Kamin. In den Sommermonaten herrschte auch bei großer Hitze angenehme Kühle im Haus, die sich nun, da der Herbst Einzug erhalten hatte, gegen Abend bereits unangenehm auswirkte wie Elli in der vergangenen Nacht hatte feststellen müssen. Sie vermisste trotz der gehobenen Ausstattung des Stadthauses die Helligkeit und Wärme, die ihr im Elternhaus selbstverständlich gewesen waren. Am meisten würde ihr jedoch der Garten fehlen. Hier gab es nur einen grauen Hinterhof, der zu anderen Häusern führte und vor dem Haus den Gehweg und die Straße.
„Wo gehst Du hin, wenn Du frische Luft schnappen willst?“, wollte sie wissen.
„In den Stadtpark - der ist nicht weit von hier. Er kann allerdings kaum mit Eurem Garten mithalten. Du wirst ihn sicher vermissen…“, gab er ihr nachdenklich zu verstehen. Elli wunderte sich über seine plötzliche Anwandlung von Sorge um ihr Befinden, nachdem er sich bislang vergleichsweise emotionslos geäußert hatte.
„Wir könnten doch gleich einen Spaziergang im Park machen - ich würde zu gerne nach draußen gehen bei dem herrlichen Wetter!“ Elli war beinahe enthusiastisch angesichts der Aussicht, etwas Neues zu entdecken und sich gemeinsam mit ihm in seiner vertrauten Umgebung zu zeigen. „Vielleicht treffen wir jemanden, den Du kennst. Dann könntest Du uns vorstellen!“ Benthins Blick wurde weicher, beinahe zärtlich. Ellis überschäumende Art berührte sein Herz immer wieder. Überdies verzog er jedoch keine Miene, als er sagte:
„Mein Vater hat sich angekündigt. Er hat sich in einem Hotel in der Nähe einquartiert und würde vor seiner Abreise gerne noch ein spätes Frühstück mit uns nehmen. Ich hoffe, Du bist damit einverstanden?“ Wieder hatte er diesen sachlichen Ton angenommen, der Elli beinahe frösteln ließ. Sie wollte sich jedoch nichts anmerken lassen und bemühte sich um eine souveräne Reaktion:
„Selbstverständlich habe ich nichts dagegen! Ich finde ihn ausgesprochen angenehm… Kein Wunder - er ist schließlich Dein Vater!“ Endlich konnte sie ihn zu einem kleinen Lächeln bewegen, das sie vor Freude innerlich fast jubeln ließ.
Wie nicht anders zu erwarten, war der Besuch des Schwiegervaters ein willkommener Lichtblick für Elli. Er hatte denselben Sinn für Ironie wie sein Sohn und verhielt sich äußerst charmant seiner
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