Seit du tot bist: Thriller (German Edition)
leer und abstrakt meine vorherigen Vorstellungen waren. Dieses Kind, das hier vor mir steht, ist real – aus Fleisch und Blut, eine Mischung aus Art und mir. Liebe packt mich wie eine Faust. Sie hält mich gefangen, so real wie das Kind vor mir.
Es ist eine Liebe, für die ich sterben würde.
»Wir müssen gehen, Ed.« Kelly rauscht an mir vorbei und packt den kleinen Jungen beim Handgelenk. Sie sieht mich an, als sie ihn wegzieht, und ihre Augen weiten sich vor Schreck. Sie hat also wie Bobs ein Foto von mir gesehen. Sie weiß, wer ich bin. Man hat sie vor mir gewarnt. »Komm schon, Ed.«
Mir dreht sich der Magen um vor Panik. Eds Namen zu kennen und zu wissen, wo er zur Schule geht, reicht nicht. Art könnte ihn noch heute Nachmittag von hier wegbringen. Sie könnten für immer verschwinden.
Der kleine Junge mault, lässt sich aber wegführen. Kelly rennt jetzt beinahe.
Ich gehe ihnen mit schnellen Schritten nach. »Wir müssen ihnen folgen«, sage ich.
Der Bereich beim Schultor ist voller Menschen, und ich verliere sie mehrmals aus den Augen, doch Lorcan bahnt sich einen Weg durch die Menge, und wenige Augenblicke später erreichen wir unseren Wagen.
Kelly und Ed befinden sich einige Meter von uns entfernt auf der Straße. Ed macht Theater, wehrt sich dagegen, von Kelly mitgeschleift zu werden. Dann öffnet Kelly die Tür eines großen Geländewagens und Ed verschwindet auf dem Rücksitz.
Ich betrachte das Foto auf meinem Handy. Der Gesichtsausdruck ist der von Art, doch etwas an seinem Mund und dem Schwung seiner Nase erinnert mich wieder an meinen Vater.
Dies ist mein Sohn. Die Worte sickern in meinen Verstand und werden real, während ich sie denke. Dies ist mein Sohn.
Jetzt, wo ich ihn gefunden habe, darf ich ihn nicht wieder verlieren.
Kapitel 20
Lorcan startet den Motor und fährt los. Ein paar Straßen weit bleiben wir hinter dem Geländewagen. Ich habe furchtbare Angst, dass wir ihn aus den Augen verlieren.
»Was hat das Kindermädchen gesagt?«, frage ich.
»Nichts«, erwidert Lorcan. »Sie hat nur immer wieder zu dir hingeschaut. Ich hab erzählt, ich hätte ein Kind, dass gerade an dieser Schule angefangen habe, aber sie hat nicht wirklich zugehört.«
Der Geländewagen fährt weiter. Ich beuge mich auf meinem Sitz vor, versuche, einen Blick auf Ed zu erhaschen. Nach wenigen Minuten hält der Wagen vor dem Tor eines großen, eingezäunten Hauses.
Ich spähe durch die Windschutzscheibe und beobachte, wie sich die Eisentore öffnen. Der Geländewagen fährt hindurch. Als sich die Tore hinter ihm wieder schließen, fährt Lorcan langsam an ihnen vorbei.
»Okay, jetzt haben wir eine Adresse.« Er sieht mich an. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
Ich nicke, versuche, mich selbst genauso davon zu überzeugen wie Lorcan. Ich darf jetzt nicht zusammenbrechen: Ich muss stark bleiben, wegen Ed. Ich schaue zu dem Haus hin, in dem er mit der Frau lebt, die er für seine Mutter hält … und wohin Art zu Besuch kommt, wenn er kann. Sie haben eindeutig viel Geld. Und Ed scheint wohlgenährt und zufrieden zu sein. Ein glückliches Kind. Das zumindest ist ein Trost.
Zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, dass dies kein Kind ist, das gerettet werden möchte, sondern ein gewöhnlicher Junge, der ein normales, angenehmes Leben hat. Das frei stehende Backsteinhaus hat drei Stockwerke. Vor dem Haus gibt es einen Rasen. Und Rosenbüsche und Eichen. Und das hohe, verschlossene Tor.
Ich betrachte meine abgekauten Fingernägel. Ich bin eine Außenseiterin, seit ich denken kann. Als Kind habe ich die langen Abwesenheiten meines Vaters nicht wahrzunehmen versucht; als Teenager wollte ich seinen Tod nicht eingestehen, der mich von anderen Kindern unterschied. Und so weiter und so weiter. Immer stand ich abseits. Und jetzt stehe ich außerhalb von Eds Leben. Ich spiele keine Rolle darin. Ich werde nicht gebraucht.
Der Gedanke tut höllisch weh, aber vielleicht werde ich Ed mehr schaden als nützen, wenn ich in sein Leben trete.
»Gen?« Ich merke, dass Lorcan mit mir spricht. Ich wende mich ihm zu und versuche, dieses Gefühl der Leere in meinem Magen zu ignorieren.
»Ich glaube, wir haben jetzt genug, um zur Polizei zu gehen. Um das zu bestätigen, was wir bereits wissen, ist nur eine DNA -Probe nötig, und darum müssen sie sich kümmern, sobald sie unsere Geschichte gehört haben. Das wird nur ein paar Tage dauern, dann …«
»Wir können nicht so lange warten«, unterbreche ich ihn. »Art könnte Ed bis
Weitere Kostenlose Bücher