Seit jenem Tag
ehrlich ihr gegenüber, aber sie hörte nur, was sie hören wollte.«
Er spuckt dieses »sie« aus, als stünde Sally neckend vor ihm und würde ihm etwas abverlangen, was er nicht geben will.
»Wie auch immer Sie das einschätzen, was war, Sie können William unmöglich zu dieser Anhörung gehen lassen, ohne alle Fakten zu kennen. Was ist, wenn die Leute von der Versicherung mehr darüber wissen als er?«
Ich stelle mir vor, wie er ganz allein dort steht, nicht einmal in Begleitung eines Anwalts. Und muss dabei an den kleinen Jungen auf dem Schulfoto denken, der sein Bestes gibt, um alles recht zu machen.
»Und Sie glauben nun, ich wüsste, was passiert ist?«, sagt Richie mit einem ärgerlichen Achselzucken.
»Ich denke, dass Sie mehr wissen über …« Ich konzentriere mich und versuche stark zu bleiben. Womöglich bin ich für diesen Kampf tatsächlich nicht gut gerüstet. »… über ihren Tod als alle anderen.« Er sieht mich voller Verachtung an, doch ich bin mir ziemlich sicher, dass es Furcht ist. Monatelanges Forschen in Williams kontrollierten Gesichtszügen nach kleinen Anhaltspunkten hat mich darin zur Meisterin werden lassen. »Und ich werde mich nicht von der Stelle rühren, bis Sie es mir gesagt haben.«
Mit einer ruckartigen Bewegung seines Kopfes zeigt er auf eine nahe Bank, die er ansteuert, ohne sich zu vergewissern, ob ich ihm auch folge.
»Sie waren noch nie verheiratet, nicht wahr?«
»Nein«, sage ich. Wie kommt er darauf? Hat er einfach geraten, oder merkt man es mir an?
»Das ist ein Marathon und kein Sprint«, erklärt er, den Blick auf den See gerichtet, über die bunt zusammengewürfelten Familien hinweg, die alle ihr Bestes geben, um glücklich zu sein. Komisch, dass diese Idylle für mich das eine, für ihn aber etwas ganz anderes bedeutet. »Schon mal was von Mitgefühlserschöpfungssyndrom gehört? Das Treueerschöpfungssyndrom unterscheidet sich kaum davon.«
Ich kann ihn mir gut vorstellen, wie er sich Kaffee trinkend in einem Marketingmeeting für irgendeine idiotische Band zur Geltung bringt: Er ist ein Typ, der seine Gefühle nicht ehrlich ausdrückt, sondern nur Zitate von sich gibt. Ich beobachte, wie wenig seine kalten, wohlgeratenen Züge preisgeben, und erkenne den Unterschied zu Williams Regungslosigkeit. Richie umgibt eine Leere, die Sally, wie ich mir gut vorstellen kann, als Tiefe missdeutet hat. Immer waren es diejenigen gewesen, die sie nicht kriegen konnte, die dieses verzweifelte Verlangen bei ihr auslösten. Die frustrierende Distanz, die William aufbaut, ist vermutlich das Gegenteil davon; als hätte man ihm schon als kleines Kind beigebracht, dass Gefühle etwas Schlechtes sind, dass man sie verdrängen muss. Es bedeutet aber nicht, dass sie nicht vorhanden sind, doch man muss sie hervorlocken.
»Wie hat es angefangen?«
»Sie brauchte mich nur anzusehen«, sagt er, und ich weiß genau, was er meint. Wenn ich in Sallys vollem Scheinwerferlicht stand, war es schwer, nicht geblendet zu sein. »Wir gingen zu viert aus, oder wir aßen gemeinsam zu Abend, und sie sorgte dafür, dass ich mich nicht abwenden konnte.« Fast erzähle ich ihm, dass ich das kenne, beschließe dann allerdings, dass er kein bisschen Mitgefühl verdient hat. Empfinde ich überhaupt Mitgefühl, oder bin ich erleichtert, weil ich die Sally der letzten Jahre in dieser Beschreibung wiedererkenne? Fast flehend wendet er sich an mich. »Aber sie war nicht so, wie ich das erwartet hatte.«
»Was haben Sie denn erwartet? Es gefiel Ihnen, dass sie gefährlich wirkte. Da mussten Sie doch damit rechnen, dass Sie sich nicht einfach abspeisen lässt, nachdem Sie das bekommen haben, was Sie wollten.«
»Sie sagte, Mara sei ihre beste Freundin, aber Herrgott – es war, als wollte sie erwischt werden. Ständig rief sie an, eines Abends traf ich sie sogar vor unserer Wohnung an. Sie wartete dort auf mich, als ich von einem Geschäftsessen nach Hause kam, sie wollte …« , er wendet sich ab und wirbelt dann wieder herum zu mir, »sie wollte im Auto mit mir vögeln, Livvy. Wenn das keine verrückte Idee war? Meine Kinder waren oben.«
O Gott, wie sehr hatte ich sie um diese lockere Sinnlichkeit, diesen Mangel an Selbstzweifeln beneidet. Man konnte es in den Augen der Männer sehen, wenn sie mit ihr geschlafen hatten, ein völlig benebelter Blick, der mir das Gefühl gab, ein Mauerblümchen zu sein. Genau deshalb hat es auch so verdammt wehgetan, als sie zu weit ging und mir das zu nehmen
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