Seit jenem Tag
er denkt, dass ich genau das tue? Mich an ihn heranmache?«
Ich reibe wieder über meine Lippen und sorge dafür, dass auch noch die letzte Spur von Farbe verschwindet. Ich muss an Madeline denken, das bedauernswerteste Opfer des Ganzen, wie sie abgeschnitten von der Außenwelt auf dem Fußboden des Geschenkladens saß und gegen brennende Tränen ankämpfte. Ich bin wirklich nicht sicher, ob ich das tun soll. Ich habe kein Recht auf diese Trauer, und ihn zu bitten, mich zu trösten, wäre das Allerletzte.
»Er hat dich eingeladen!«, sagt Jules und reißt mich aus meinen Gedanken. Das hat er, das ist richtig, aber seitdem habe ich nur einmal von ihm gehört, mittels einer geschäftsmäßig verfassten E-Mail, die ich vor zwei Wochen erhielt, mit der Bitte, mich in – ich werfe einen Blick auf meine Uhr – dreißig Minuten mit ihm auf den Stufen des Royal Courts of Justice zu treffen. O Gott.
»Das ist das letzte Mal, dass ich ihn sehen werde«, sage ich und meine es ernst. Es ist viel zu kompliziert, zu schwer, und die Gefahr, mehr Schaden anzurichten, als Gutes zu bewirken, viel zu groß. Da war die sentimentale Überzeugung, ich würde die beiden nie wiedersehen, viel besser: Jetzt, da das Gegenteil wahr geworden ist, weiß ich nicht, ob ich dem gewachsen bin.
»Sieh einfach zu, dass du den heutigen Abend überstehst. Du kommst schon zurecht. Wenn es sein muss, rufst du mich von der Toilette aus an. Morgen sprechen wir dann auf jeden Fall darüber, wie es gelaufen ist.«
Ich lege auf, zupfe das Kleid nach unten, das ich anhabe – ein formloses schwarzes Baumwollding, das normalerweise ganz hinten in meinem Kleiderschrank verbannt ist, wo es auch hingehört, und gehe hinaus, um ein Taxi herbeizuwinken.
Da ich mich um ein paar Minuten verspäte, schnellt mein Angstpegel wieder nach oben, als ich rasch aus dem Taxi klettere und dem Fahrer einen Geldschein in die Hand drücke. William erwartet mich neben dem beeindruckenden steinernen Bogenportal des Gebäudes und hat gegen den schneidenden Wind den Kragen seines beigen Kaschmirmantels hochgeschlagen. Verrückterweise habe ich Gewissensbisse, ihn, diesen fast Fremden, allein in der Kälte warten zu lassen, bis ich zu erscheinen geruhe. Er sieht mich nicht näher kommen.
»Entschuldige bitte«, begrüße ich ihn und berühre ihn am Arm.
Er dreht sich um und blickt auf mich herab. Eine Sekunde lang ist es fast so, als sei er überrascht, mich hier zu sehen.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagt er und setzt ein Lächeln auf, das ihm offenbar nicht leichtfällt. »Es freut mich, dich wiederzusehen. Sehr anständig von dir, dass du dir das antust.«
Er beugt sich herab, um mich auf beide Wangen zu küssen, und ich spüre, wie mir die Röte ins Gesicht schießt, als seine Lippen mich kaum wahrnehmbar berühren. Ich versuche, tief ein und aus zu atmen und mich zu sammeln. Das eindrucksvolle geschichtsträchtige Gebäude, aus dessen Innerem lodernder Fackelschein dringt, lasse ich auf mich wirken. Der Empfang, den es bereitet, hat was Grimmiges.
»Bist du bereit?«, frage ich ihn und hoffe, er vernimmt auch die unterschwellige Botschaft, dass ich nämlich, sollte er das nicht sein und lieber auf der Stelle umkehren und wegrennen würde, mit ihm käme. Einen kurzen Moment lang scheint sie zu ihm vorzudringen und er sich meinem fast nicht wahrnehmbaren Angebot zu öffnen, aber dann holt ihn sein Pflichtgefühl wieder ein.
»Wie ich es besser nicht könnte.« Er sieht mich an. »Wenn du es zu grauenhaft findest, bin ich dir nicht böse, wenn du vorzeitig aufbrichst. Sally hat Anlässe dieser Art immer gehasst.«
»Kommt nicht infrage«, erwidere ich. »Das stehen wir zusammen durch.«
»Sollen wir?«, sagt er.
Wir mischen uns in das vornehme Gedränge eines Sektempfangs, der in einem eleganten Veranstaltungsraum mit hoher Decke abgehalten wird. Die taubengrauen Wände sind mit eleganten weißen Friesen abgesetzt, und die über uns hängenden schweren Kandelaber verbreiten warmes Licht. Ich ziehe meinen Mantel aus und reiche ihn einem Bediensteten, wobei mir die schlechte Wahl meiner Kleidung bewusst wird. Ich sehe darin aus, als wollte ich zu einem Picknick im Park gehen, wohingegen alle anderen Frauen in viele Meter Taft und Samt gehüllt sind, als hätten sie aus den Vorhängen ihrer stattlichen Herrensitze noch ein Ballkleid gezaubert. Im Grunde meines Herzens wusste ich, wie falsch meine Wahl war, doch es geschah aus Respekt und nicht aus
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