Seit jenem Tag
Machtstreitigkeiten auszuhorchen.
Während ich daneben stehe und mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagere, überfällt mich aus heiterem Himmel die Trauer plötzlich viel unmittelbarer als alles, was ich bisher empfunden habe. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich Sally im Moment so nah fühle, doch nicht, als hätte ich ihren Platz eingenommen, sondern als würde ich mich neben sie quetschen. Ich vermisse dich, sage ich mir. Ich vermisse dich, weil du diese Leute sogar noch gruseliger als ich gefunden hättest und wir uns, wenn du hier wärst, am kostenlosen Champagner schadlos halten und auf völlig unangemessen hysterische Weise über die Frauen mit ihren Pferdegesichtern und unmöglichen Outfits herziehen würden. Ich vermisse dich – so ging es mir immer, selbst wenn ich dich gehasst habe. Hast du mich auch vermisst?
Ich bin mehr als bereit, Platz zu nehmen, als wir zum Dinner gerufen werden, denn ich bin fast eine ganze Stunde lang in Williams Schatten wie ein Geist auf dem Fest herumgeschlichen. Er hat versucht, mich mit einzubinden, aber jeder, mit dem er gesprochen hat, brachte sich ins Gespräch ein, als ginge es darum, einen Punkt nach dem anderen abzuhaken, wobei ich es nicht auf die Tagesordnung geschafft habe. Womöglich bin ich ein invertierter Snob, doch sie gaben mir alle das Gefühl, eine Art Leibeigene zu sein. Ob Sally den ihr eigenen Akzent aus dem Südosten von England beibehielt? Ohne ihn kann ich mir sie schwer vorstellen, und ich kann mir genauso wenig vorstellen, dass er in dieser in sich geschlossenen, privilegierten Enklave gut ankam. Ich hoffe, sie hat es ihnen heimgezahlt.
Willam rückt einen Stuhl für mich zurecht. »Wirst du’s überleben?«, fragt er.
»Überlebst du es denn?«
»Ja, danke«, sagt er und greift nach der Speisekarte, während ich auf einmal ein wenig wütend werde. Wie kann er nur so ruhig, so gelassen bleiben? Das ist grauenhaft, diese Leute sind grauenhaft, ihr Mitgefühl völlig blutleer. »Darf ich dir Wein einschenken?«
»Sicher.«
Meine Wut verpufft, als ich ihn dabei beobachte, wie er den nächsten immer gleichen Austausch über Sallys Tod mit einem emotional verstopften Anzugträger zu seiner Linken über sich ergehen lässt. Ich glaube nicht, dass ich das könnte, wenn ich in seinen polierten teuren Budapestern stecken würde, aber ich begreife natürlich, dass genau das von ihm erwartet wird, ihm gar keine Wahl bleibt, obwohl es eine gibt.
»Was hat dich deinen Aufenthalt verlängern lassen?«, frage ich ihn, als ich eine Gesprächspause erahne und endlich die Chance habe, mich einzubringen.
»Ich denke, du hattest recht«, sagt er ein wenig ironisch. »Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass das mit dem Internat wohl doch noch ein wenig zu früh ist, aber ich wollte, dass Madeline einige Zeit in England verbringt. Und« , er wendet sich ab, und sein Kinn verhärtet sich , »sagen wir mal so, New York fühlt sich im Moment nicht sehr nach einem Zuhause an.«
»Was genau …«, beginne ich, ohne den Satz zu beenden. Mir wird klar, dass er dazu nicht mehr sagen möchte. Er wechselt seinen Gesichtsausdruck und setzt ein Lächeln auf. »Und was ist mit dir? Was gibt’s Neues?«
Als »eine Gelegenheit, miteinander zu reden« hatte er den heutigen Abend angepriesen, doch das genaue Gegenteil scheint der Fall zu sein. Es mag am öffentlichen Rahmen und dem anstrengenden Bemühen liegen, die unbeholfenen Versuche der Leute aufzufangen, die ihr Mitgefühl zum Ausdruck bringen, aber es scheint etwas Grundsätzlicheres dahinterzustecken. Das wirft die Frage auf, was sich zwischen dem warmherzigen Telefonat und der Landung in England einen Monat danach abgespielt haben mag. Ich weiß, dass ich ihn das nicht fragen kann, und so überlasse ich ihm die Führung. Ich erzähle ihm von meinem Projekt – wie sehr ich mir wünsche, dass es funktioniert, und wie frustrierend schwer zu fassen Flynn Gerrard seit jenem schicksalshaften Abend gewesen ist.
»Ich habe es in seiner Wohnung einfach verpatzt und bin jetzt in Sorge, er hält mich für ein inkompetentes Schulmädchen, das er nicht mehr ranlassen möchte.«
»So schlimm, wie du es beschreibst, hört es sich gar nicht an. Das Schwerste hast du jedenfalls schon hinter dir. Du hast die Präsentation gewonnen. War die Eiskönigin denn angemessen gedemütigt?«
»Gut möglich. Irgendwas ist mit ihr passiert.«
Es ist seltsam. Charlotte ist seitdem sehr viel freundlicher geworden; so viel
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