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Seitenwechsel

Seitenwechsel

Titel: Seitenwechsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leipert Sabine
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Gefühl nicht los, dass Tim mir etwas ganz anderes erzählen wollte. Er nahm meine Hand und spielte abwesend mit meinen Fingern. Mir lag eine Floskel auf der Zunge. So etwas wie »Wenigstens auf Kai können wir stolz sein« oder »Etwas Gutes hatte unsere Beziehung ja«. Aber es stimmte nicht. Wir hatten mehr als Kai. Vielleicht überwogen am Schluss die schlechten Erinnerungen, und wenn man nicht aufpasste, konnten sie die schönen überlagern, zerstören, wie ein Elfmeterschießen am Ende eines Spiels, das keinen Gewinner verdient hatte. Trotzdem, ein Spiel dauerte immer noch neunzig Minuten, auch wenn einem nachher nur wenige Situationen im Gedächtnis blieben, die es schließlich bis in den Artikel schafften. Die bestimmten, ob es ein gutes oder ein schlechtes Spiel war, ob die eine Mannschaft verdient gewonnen oder die andere unglücklich verloren hatte. Es war unfair, am Ende machte man die ganzen neunzig Minuten an vielleicht vier, fünf Situationen fest. So wie man fünf Jahre Beziehung auf einige wenige einschneidende Erlebnisse reduzierte. Das Kennenlernen, die erste gemeinsame Nacht, der heftigste Streit, die Geburt des Kindes. Dann Affären, Tränen, die Trennung. Das Dazwischen, das eigentliche Spiel, versank in der Zusammenfassung. Anfängliche Spielfreude wich routiniertem Kurzpassspiel bis zu den zähen letzten Minuten, in denen man versuchte, das Ergebnis, mit dem man gerade so leben konnte, über die Zeit zu retten. Dann der Schlusspfiff. Aber Tim und ich hatten mehr als Kai, mehr als unsere Streits, unsere Versöhnungen, die anfänglichen Liebeserklärungen. Insgesamt betrachtet, in der Endabrechnung, hatten Tim und ich mehr gute als schlechte Erinnerungen. Es war ein gutes Spiel gewesen. Und vielleicht bekamen wir sogar noch eine Nachspielzeit. Also schwieg ich.
    Tim fuhr mit seinem Zeigefinger immer wieder das Dreieck aus den Linien in meiner rechten Hand ab. Ich beobachtete ihn von der Seite und mochte immer noch, was ich sah. Seine kurzen braunen Haare, in die sich ab und zu ein vereinzeltes graues verirrte. Die glatte Haut an seinem kräftigen Hals, das schmale Gesicht und der immer leicht melancholische Blick, der jetzt auf unsere Hände gerichtet war. Die Bartstoppeln, die schon nach kurzer Zeit wieder pieksten, egal wie gründlich er sich morgens rasierte. Er bemerkte, dass ich ihn beobachtete, und fragte: »Worüber denkst du nach?« Dabei hing er doch genauso irgendwelchen Gedanken nach.
    Lass uns verschwinden, dachte ich, nur du und ich. Wir kidnappen Kai jetzt auf der Stelle aus dem Kindergarten – obwohl, konnte man sein eigenes Kind eigentlich entführen? –, plündern unsere Konten und fahren irgendwohin, wo uns keiner kennt und keiner jemals finden wird und dann fangen wir noch mal von vorne an. Egal wo. Nur wir drei. Ohne Vergangenheit und ohne Verpflichtungen. Das wolltest du doch. Lass uns jetzt sofort auf der Stelle verschwinden.
    Aber ich schüttelte nur den Kopf. Schade, dass man irgendwann aufhörte, diese Frage ehrlich zu beantworten.
    »Sarahs Eltern sind also Bäcker?«, brachte ich stattdessen völlig zusammenhanglos hervor.
    »Ja, nette Leute.«
    Ach, getroffen hatte er sie also auch schon?
    »Wieso?«, fragte Tim irritiert.
    War das nicht klar? Sarah stammte aus einer backenden, musizierenden Großfamilie. Sie war das, was Tim sich immer gewünscht hatte. Ein Familienmensch durch und durch. Bei den Genen war sie schon eine gute Mutter, bevor sie überhaupt Kinder hatte. Sie hätte eben im Kindergarten keinen Schweißausbruch gehabt. Sie hätte auf die Fragen der Erzieherin nicht ahnungslos herumgestochert. Sie wollen Ideen für Ihren Kindergarten? Bitte, wie wäre es mit einer Backstunde am Nachmittag, wo Kinder doch so gerne im Teig rumkneten. Sarah hätte es mit Freude übernommen, natürlich ehrenamtlich, wie Tim, und anschließend hätte sie den Kindern noch Hänschen Klein als Kanon beigebracht. Sie liebte Kinder. Sie wollte Kinder. Und sie wollte sie mit Tim.
    »Nur so«, nuschelte ich und wechselte schnell das Thema. »Dieser Kaffee sollte wirklich unter das Drogenschutzgesetz fallen.« Tim lachte, und ich schüttete den Rest weg. »Ich muss los.«
    »Na gut. Ich warte noch, bis der Regen aufgehört hat.«
    Aber er hielt meine Hand weiter fest. Wir sahen uns an. Lange, ohne dass es einem von uns unangenehm wurde. Wie lange hatten wir uns nicht mehr in die Augen geschaut, ohne dass einer von uns sich abwenden musste? Ich wollte nicht gehen und Tim meine Hand

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