Sektfrühstück um Mitternacht: Roman (German Edition)
befremdlich sich das auch anhört, es ist wirklich intim. Ich schaue in ihre Gesichter und fühle dabei wie der fanatischste Vegetarier, frage mich, ob Schweine Freundschaften schließen und ob es sie betrübt, wenn ihr Kumpel als Erster zum Schlachthof geschickt wird. Würde man Milly die Kehle aufschlitzen, wäre ich völlig außer mir. Doch diese Schweine wurden wenigstens von einem liebevollen Bauern großgezogen: Oscar ist die Herkunft ganz wichtig (solange die Zutaten nicht in meinem Ausschnitt transportiert werden). Er bleibt neben mir stehen, bis ich die ersten beiden rasiert habe, und zeigt mir, wie ich sie halten muss, damit ich die Haut nicht zu sehr einschneide. Ich sollte ihm sagen, dass meine stoppeligen Beine weitaus schwerer zu behandeln sind, aber ich genieße seine Anleitung viel zu sehr. Viel zu früh lässt er mich allein, und ich ziehe Michelle zur Hilfe hinzu. Alle wissen, wie zuverlässig sie ist, weshalb sie auch oft zwischen den Stationen hin- und herspringen muss. Im Moment sehe ich, wie Jean-Paul, der Patisserie-Chef, sie mit verlangendem Blick ansieht und sich wohl fragt, ob er sie dazu überreden kann, sich seinem geliebten Brot zu widmen, damit er eine ausgiebige vormittägliche Bordeaux-Pause einlegen kann. Ich schüttele den Kopf, und er schlurft zurück an seinen Ofen.
»Ihres gefällt mir nicht besonders«, sagt sie, als ich eingehend ein besonders pausbäckiges Exemplar betrachte und versuche, die Rasierklinge in seinen Fleischfalten um die Wangen herum anzusetzen.
»Sehen Sie ihn sich genau an«, sage ich und zeige ihr sein wackelndes Gesicht. »Wenn es Mitternacht an Silvester wäre, würden Sie bestimmt nicht Nein sagen.«
»Wollen Sie damit andeuten, dass ich eine geile Tussi bin?«
»Nein, ich …«
Sie grinst breit. »Sie haben womöglich recht. Aber ich sag Ihnen was, in dieser Küche läuft nicht viel.«
»Ich weiß, das ist schockierend«, stimme ich ihr ein wenig zu ernsthaft zu. Ich setze gerade die Rasierklinge an, um die Schnauze von Ferkel sechs zu rasieren, da werde ich von hinten heftig geschubst. Die Rasierklinge schneidet mir in den Daumen, und Blut spritzt über die Arbeitstheke. »Autsch!«, rufe ich, während ich mich herumdrehe und Joe sehe, der sich rempelnd seinen Weg durch die Küche bahnt.
»Entschuldigung«, sagt er und zeigt mir sein arrogant grinsendes Gesicht.
»Wichser!«, sage ich und sauge an meiner blutenden Hand.
»Mein Gott, ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragt Michelle. »Ich hole gleich mal den Erste-Hilfe-Kasten.« Und mit gesenkter Stimme ergänzt sie: »Machen Sie sich keine Sorgen. Die sind alle ziemlich sauer, aber sie werden drüber hinwegkommen.«
»Danke«, erwidere ich und versuche, meiner Wut mit Vernunft beizukommen. Es ist ja nicht so, dass er mit einer Rasierklinge auf mich losging, es sollte ja nur ein kleiner Schubs sein. Sollte ich jetzt schweres Geschütz auffahren und meine neu gefundene Autorität geltend machen? Es ist bei Gott verlockend, aber es wäre der Auslöser für den totalen Krieg. Oscar soll nicht denken, dass die Küche gleich nach meiner Beförderung im Chaos versinkt.
Während ich noch meine Schritte abwäge, entdecke ich Oscar, der mich fragend ansieht. Was passiert ist, hat er nicht mitbekommen, also denkt er vermutlich, ich starre einfach vor mich hin und stelle mir vor, was geschehen würde, wenn die Schweine wirklich fliegen könnten. Was soll ich tun? Ich greife mit meiner nicht blutigen Hand nach dem nächsten Kopf und bete, dass er wegschaut. Hygiene ist das A und O, und egal, wie viel Tierblut herumfliegt, glaube ich nicht, jemand (außer dieser Jemand heißt Joe) möchte in nächster Zeit »Ambers Hand auf einem Kohlbett« haben. Er sieht noch immer her. Zum Glück kommt Michelle zurück und gibt mir Deckung, während ich meine Hand in der Spüle wasche und ein Pflaster draufklebe.
Nachdem die Ferkel frisch rasiert sind, mache ich mich auf den Weg zu den einzelnen Kochplätzen, um die Liste der Beilagen durchzugehen, die Oscar auf einen Zettel gekritzelt und mir hingelegt hat. Scheiß drauf: Ich werde mich nicht aufführen wie Mike, aber auch kein duckmäuserisches kleines Mädchen spielen. Ich bin forsch und direkt, habe Ansprüche an den Jus und bin gnadenlos beim Kartoffelbrei. Dann kehre ich zu den Ferkeln zurück, die ganz langsam im Ofen gegart werden, eingebettet in warme Flüssigkeit, die ihr einzigartiges Aroma aufnehmen wird. Oscar wacht aufmerksam über sie und bereitet
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