Sektfrühstück um Mitternacht: Roman (German Edition)
Hochstuhl festgezurrt ist.
»Atticus, schau mal, da kommt der Puff-puff-Zug!«, übertönt er das hartnäckige Geheul seines kleinen Sohns. Vielleicht ist es auch sein Enkel, doch mich beschleicht der Verdacht, dass seine Bemühungen, Jugend und Virilität unter Beweis zu stellen, zu schlimmen Konsequenzen geführt haben. Das Bild dieses urbanen Horrors bannt mich so lange, bis Oscar mich entdeckt und an den Tisch winkt.
»Setzen Sie sich«, sagt er. »Richard, darf ich dir Amber vorstellen? Sie ist meine neue Küchenchefin.«
»Hi, Amber«, sagt Richard, als Atticus versucht, sich Kartoffelbrei ins Gesicht zu schmieren. Er streckt seine klebrigen Händchen aus. »Gute Arbeit.«
»Danke, aber ich habe mich nur an seine Anweisungen gehalten«, antworte ich und sehe dabei den unergründlichen Oscar an. »Hatten Sie alle das Schwein?« Tallulah verdreht unverblümt vor mir die Augen, als hätte ich sie gefragt, ob sie Kannibalin ist. »Die Suppe ist auch eine gute Wahl«, ergänze ich schnell.
»Ja«, meint sie lässig. »Sie war … fein.«
In diesem Moment hört das Geschrei wie durch ein Wunder auf. Das erleichterte Aufatmen des ganzen Restaurants ist fast hörbar.
»Ich muss Aa«, verkündet Atticus hilfreich in die plötzliche Stille hinein. Einen kurzen Augenblick lang sieht es ganz danach aus, als würde Richard jetzt dort weiterschreien, wo Atticus aufgehört hat. Oder vielleicht muss er auch Aa machen.
Ich könnte darauf wetten, dass er seine erste Kinderschar bereits Anfang der Neunzigerjahre auf die Universität geschickt hat und sich vor ihm plötzlich neue Möglichkeiten auftaten, sein Leben zu gestalten. Das Aussehen seiner Frau hatte sich vermutlich inzwischen ihrem Alter angepasst, ihr Sexleben schwand dahin, und er begann sich zu fragen, ob das nun wirklich alles im Leben war. Schließlich hatte er noch immer was zu bieten, wenn er nach der Aufmerksamkeit ging, die ihm Frauen entgegenbrachten, die zwanzig, ja sogar dreißig Jahre jünger waren als er. Dabei war ihm allerdings nicht bewusst, dass das nicht ihm als Person galt, sondern anständige alleinstehende Männer einfach so dünn gesät sind, dass selbst Quasimodo im Handumdrehen eine fände, wenn er in einem besiedelten Gebiet leben würde. War es anfangs nur eine Affäre? Heißer Sex nebenbei, ohne Verpflichtungen, bis seine Frau dahinterkam? Oder setzte seine Geliebte auf Spermienraub und versäumte es, ihre Aversion gegen Empfängnisverhütung zu verkünden, bis sie bereits im dritten Monat schwanger war? Ich zweifele nicht daran, dass er seinen Sohn liebt, und doch glaube ich zu wissen, dass es nicht zu Richard Douglas’ Schlachtplan gehörte, ein Kind ans Töpfchen zu gewöhnen und sich dabei täglich der Frage stellen zu müssen, wie man sich so fühlt als Großvater. Ich weiß, ich sollte mich nicht als biestige Geschiedene aufspielen, aber manchmal ist der Gedanke an die Zeitbombe Fruchtbarkeit einfach nur ungerecht. Man mag mir also meinen kurzen Moment der Schadenfreude nachsehen, wenn ich Zeugin eines derartigen Paradebeispiels eines auf Eizellen beruhenden Terroranschlags werde.
»Nun, wenn das so ist, dann sollte ich wohl besser wieder nach hinten gehen«, sage ich.
»Ja, sollten Sie«, stimmt Oscar mir zu, »aber hören Sie, setzen Sie sich doch zum Dessert zu uns. Jean-Pauls Bread-and-Butter-Pudding ist ein Meisterwerk. Den müssen Sie kosten.«
»O, na gut.« Steckt dahinter nur die Freundlichkeit des Chefkochs gegenüber seinem Sous, oder steckt mehr dahinter? Warum stelle ich mir immer diese Jane-Austen-Fragen? Wenn ich in diesem Kontext weitermache, komme ich vermutlich noch darauf, dass er mich zu überreden versucht, ihm einen zu blasen, während er ein Kalbsbries brät. Köche sind emotionales Zyanid, und dieses Risiko vergesse ich immer gern.
Das Mittagsgeschäft flaut langsam ab, und wir konzentrieren uns fast nur noch auf die Patisserie-Abteilung. Abgesehen von der Kalorienbombe Bread(sprich Brioche)-and-Butter-Pudding gibt es noch eine umwerfende Weincreme mit Zitronengras und eine Pflaumen-Armagnac-Tarte mit wunderbar dickem Streichrahm.
»Kosten Sie sie«, sagt Jean-Paul und hält mir einen Löffel vors Gesicht.
Sein Brandy-Atem verrät mir, dass er ein wenig beschwipst ist, aber ich will ihm nicht zu nahe treten. Er ist ein Mittvierziger und Pariser und so rotgesichtig und drall, wie man sich nur einen Bäcker vorstellt. In meiner niedrigen Position hatte ich bisher nicht viel mit ihm zu tun gehabt, aber
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