Sekundentod: Kriminalroman (German Edition)
von Rebecca Ganter auszusagen hatte, zwang sich jedoch im nächsten Moment, nicht weiter darüber nachzudenken. Früher hatten sich Heike und er über seine Fälle ausgetauscht. Natürlich durfte er dabei keine Namen nennen, doch ihr neutraler Blick auf einen Sachverhalt und die Menschenkenntnis, die sie sich über viele Jahre als Ärztin im Krankenhaus angeeignet hatte, halfen ihm, die Ermittlungen aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Doch seit sie vor knapp einem halben Jahr das gemeinsame Kind im siebten Monat verloren hatte, war eine Veränderung eingetreten. Sie wollte nichts mehr von seinen Fällen wissen. Die Welt sei schon schlimm genug, hatte sie ihm gesagt. Da wolle sie wenigstens zu Hause ein Stückchen Frieden erfahren.
Falko hatte es akzeptiert, wenngleich es ihm schwerfiel, das, was ihn beschäftigte, vor der Haustür abzulegen. Er konzentrierte sich auf seine Atmung und versuchte abzuschalten. Gleich würde er daheim bei Heike sein. Sie sprachen weniger miteinander, seitdem sie ihn gebeten hatte, seine Arbeit nicht mehr mit nach Hause zu bringen. Und auch sie verzichtete darauf, ihn an ihrem Krankenhausalltag teilhaben zu lassen. Mehr als einmal hatte sich Falko gefragt, ob ihnen durch das strikte Vermeiden gewisser Themen irgendwann der Gesprächsstoff ausgehen würde. Er wusste, dass er sich mehr um seine Frau kümmern musste. Seit der Fehlgeburt hatte sie sich immer mehr zurückgezogen, lachte viel weniger. Zunächst meinte Falko, dass sich dies mit der Zeit wieder legen würde, wie damals vor zwei Jahren, als sie schon einmal eine Fehlgeburt verkraften mussten. Das Gegenteil schien nun der Fall zu sein – sie entfernten sich immer weiter voneinander. Das schlechte Gewissen, mehr für seine Ehe tun zu müssen, überkam ihn in diesem Moment wie eine gewaltige Angstwelle. Als er vor einigen Tagen das Thema Kinder hatte anschneiden wollen, war er von Heike brüsk zurückgewiesen worden. Fast flapsig hatte sie ihm erklärt, dass es vielleicht einfach nicht sein sollte und sie sich damit abzufinden hätten. Eine Aussprache hatte sie nicht zugelassen. Falko wusste weder, wie er damit umgehen sollte, noch welche Zukunft ihnen als Paar bevorstand. Und mit seinem Beruf war es nur schwer bis gar nicht zu vereinbaren, eine solche Krisensituation aufzufangen. Die Gedanken kreisten unaufhörlich in seinem Kopf, als er sich entschloss, noch rasch beim Pflegeheim vorbeizufahren und seine Mutter zu besuchen. Obwohl er sich immer wieder vornahm, sich wenigstens zweimal im Monat dort sehen zu lassen, war sein letzter Besuch mindestens drei Wochen her. Auch wenn er es jemand anderem gegenüber, selbst Heike, nicht zugegeben hätte, so machte er sich nichts vor: Ihm graute vor jedem Besuch bei seiner Mutter. Ihren Verfall mit ansehen zu müssen, quälte ihn. Er dachte oft darüber nach, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, hätten sein Vater und seine Schwester nicht den tödlichen Unfall gehabt. Ein Betrunkener war ihnen auf der Landstraße entgegengekommen und auf die Gegenfahrbahn geraten. Falkos Vater hatte ausweichen wollen, kam ins Schleudern und war frontal gegen einen Baum geprallt. Während er sofort tot war, wurde Falkos Schwester noch in die Notaufnahme eingeliefert, wo sie wenige Stunden später verstarb. Der betrunkene Unfallverursacher war ohne einen blauen Fleck aus seinem Auto gestiegen. Es hatte lange gebraucht, bis Falko das Geschehen einigermaßen verarbeitet hatte. Das war jetzt achtunddreißig Jahre her, und damals war seine Mutter gerade mal dreiunddreißig Jahre alt und eine lebenslustige, intelligente Frau gewesen. Doch als sie die Nachricht vom Unfalltod ihres Mannes und ihrer Tochter erhielt, war von einem Moment auf den anderen alles anders. Aus einer anfänglichen Verzweiflung und Trauer über den entsetzlichen Verlust war eine Depression geworden, die es ihr kaum mehr erlaubte, sich um den damals gerade achtjährigen Falko zu kümmern. Die Medikamente, die der Arzt ihr verschrieb, wurden schon bald durch andere, stärkere ersetzt. Es gab Tage, da hatte sie nicht einmal die Kraft, ihr Bett zu verlassen. Das vorher so gepflegte und liebevoll eingerichtete Haus glich oft eher einer Müllhalde, und zu den Tabletten kam nach einer Weile auch noch Alkohol hinzu. Sobald Falko von der Schule nach Hause kam, verschwand er sofort in sein Zimmer und verschloss die Tür. Mit seiner eigenen Trauer, aber auch der Wut über die veränderte Situation, stand er allein da. Eines Tages dann, als er
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