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Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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gerne mehr für meinen Sohn getan. Sie wissen, wo er wohnte und wie – was hätte er für Wohnungen haben können! Wofür habe ich mein Leben lang geschafft?«
    Ich konnt’s ihm nicht sagen und wartete.
    »Alles hätte er von mir haben können, alles. Aber die Karte …«
    »Welche Karte?«
    Er starrte auf die Schreibtischplatte zwischen uns, griff nach einem Bleistift und drehte und wendete ihn in seinen klobigen Händen. »Ich wollte nicht, daß alles wieder losgeht. Ich weiß nicht, wie tief er damals dringesteckt hat. Jedenfalls ist er nicht leicht davon losgekommen. Als er mit der Arbeit anfing, hätt’s ihn beinahe eingeholt, und jetzt, wo er was werden sollte, mit der eigenen Praxis oder dem eigenen Krankenhaus, konnte er doch nicht wieder reingeraten.«
    »Was hat das miteinander zu tun – die politischen Geschichten, die Ihr Sohn Anfang der siebziger Jahre mitgemacht hat, und die Karte, von der Sie gesprochen haben?«
    Der Bleistift zerbrach, und Wendt knallte die beiden Hälften auf den Schreibtisch. »Ich habe Sie nicht angestellt, damit Sie mich verhören.«
    Ich sagte nichts.
    Auch er schwieg und sah mich an, als sei ich eine bittere Medizin. Schlucken oder nicht Schlucken? Als ich ansetzen und ihm zureden wollte, winkte er ab und begann zu reden. Rolf hatte wenige Tage vor seinem Tod die Karte haben wollen, auf der verzeichnet war, wo am Ende des Krieges Giftgas in der Viernheimer Heide und im Lampertheimer Forst vergraben worden war. Er hatte die Karte schon einmal haben wollen. »Da war er noch auf der Schule und hatte gerade einen Unfall mit gestohlenem Wagen und ohne Führerschein hinter sich. Ich habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um die Sache in Ordnung zu bringen, und kaum hab ich’s geschafft, erwische ich ihn, wie er sich nachts an meinem Schreibtisch und meinem Safe zu schaffen macht und nach der Karte sucht. Ich hab ihn verdroschen, daß ihm Hören und Sehen vergangen ist. Vielleicht …« Sein Blick wurde unsicher. »Dann hat es keinen Ärger mehr gegeben, er hat sein Abitur gemacht und das Examen und den Doktor. Also haben die Schläge geholfen, oder? Daß er nicht Chirurg geworden ist, habe ich ihm nicht weiter übelgenommen, das muß jeder selber wissen. Und daß er mit mir nicht mehr viel geredet hat – ich weiß nicht, was man Ihnen erzählt hat, aber das wäre wieder geworden. In einem bestimmten Alter tun sich die Buben schwer mit ihren Vätern. Das geht vorbei.« Er sah mich wieder fest an.
    »Warum wollte Ihr Sohn die Karte?«
    »Beim ersten Mal habe ich ihn nicht recht zu Wort kommen lassen, fürchte ich, und beim zweiten hat er es mir nicht sagen wollen. Hat der Mörder meines Sohns die Karte haben wollen? Wollen Sie sagen, daß mein Sohn noch leben würde, wenn ich ihm die Karte gegeben hätte?« Er stand auf. »Es ging mir um ihn, verstehen Sie, um ihn. Daß Schluß ist mit dem verrückten politischen Kram. Meinethalben hätte er die Karte haben können, ich brauche sie nicht mehr.«
    Ich konnte ihm nicht garantieren, was er hören wollte. Ich wußte nicht, was Rolfs Tod an dem regnerischen Nachmittag unter der Autobahnbrücke vorausgegangen war. Aber selbst wenn die Karte einen Mord wert war – ich konnte mir nicht vorstellen, daß einer Rolf ermordete, wenn er die Karte von ihm erpressen wollte. Ich sagte es Wendt. »Ist die Karte einen Mord wert?«
    »Heute? Vielleicht war sie es einmal. Schauen Sie sich den Großraum Ludwigshafen-Mannheim-Heidelberg an: Wenn man, statt ihn zusammen- und zuwachsen zu lassen, zur Entlastung eine Stadt gründen wollte, eine richtige Stadt, dann kommt nur die Gegend zwischen Lampertheim, Bürstadt, Lorsch und Viernheim in Frage. Autobahn- und Eisenbahnanschluß, zwanzig Minuten mit dem Hochgeschwindigkeitszug bis Frankfurt und ebenfalls zwanzig Minuten mit dem eigenen Auto bis Heidelberg, ringsum Natur, Odenwald und Pfälzer Wald zum Greifen nah – klingt gut, nicht? In den sechziger und siebziger Jahren klang es sehr gut. Aber heute denkt und plant man nicht mehr so. Heute ist alles wieder klein und niedlich und mit Türmchen und Erkerchen. Nur den Hochgeschwindigkeitszug baut man inzwischen. Wenn Sie mich fragen – wir wären alle besser dran, wenn man damals Nägel mit Köpfen gemacht hätte.«
    »Wollten die Amerikaner damals weg?«
    »Das hieß es. Und so haben wir zu kaufen angefangen. In Neuschloß gingen die Preise hoch, und ein Immobilienhändler aus Frankfurt wollte besonders schlau sein und hat für die alte

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