Selbstbeherrschung umständehalber abzugeben
war. Den Kopf von Unmengen Dosenbier geschwängert, kamen wir überein, etwas nicht nur essen zu wollen, sondern sogar zu müssen. Ein schneller Snack, Hausmannskost, egal.
Uwe erklärte sich auf der Stelle bereit, uns, ich zitiere, »auf rasch was zu zaubern«. Er erhob sich und sprintete in die Küche. Ich hörte indes irgendein Album von AC/DC, während es über mir die Tapete beflackerte, dass einem ganz anders wurde.
Drei Stunden später, ich hatte zwischenzeitlich die CD-Sammlung »Die hundert besten Hits, in denen Cowboys vorkommen« durchgehört und mein durch den Genuss dieses Tonträgers taub gewordenes Gesicht massiert, wurde ich gewahr, dass ich immer noch Hunger hatte, wenn nun auch nicht mehr auf Rindfleisch.
Ich ging in die Küche und fand Uwe mit dem Gesicht in einem halben Pfund Aufschnitt vor; er schlief wie ein Baby, während das Raclette, das er aufgebaut hatte, seiner Befüllung harrte. So wie keine umständlichere und zeitraubendere Nahrungsaufnahme als die mittels einer Racletteinstallation vorstellbar ist, verhält es sich auch mit Uwes atemberaubender Tranigkeit. Uwe würde, fiele er mit ungeöffnetem Fallschirm der Erde entgegen, zuerst versuchen, mit seinem Handy Urlaubsbekannte aus Dänemark anzurufen, weil die frische Luft ihn an diese astreinen Grillabende erinnern würde.
Jedenfalls sagte Uwe: »Ja. Du brauchst eine Kreditkarte. Wann fliegst du eigentlich?«
»In â¦Â« Ich schielte zum ersten Mal auf die Uhr. »â¦Â in zwei Stunden bereits.« Heiland!
Der Dortmunder Flughafen.
Die Schlangen vor den Schaltern waren respektabel: German Wings, LTU, Lufthansa â alle Check-ins wurden regelrecht belagert, und zwar von Menschen, die gekleidet waren, als würden sie innerhalb der nächsten 3 Minuten ihren Kopf in einen Sangriakübel tauchen. Der Schalter von Easyjet war ⦠nun ⦠verwaist trifft es nicht ganz.
Der Schalter selbst hatte die Abmessungen eines durchschnittlichen Schuhkartons, und die gähnende Leere vor dem Tresen war so raumgreifend, als stünde man vor einem Kiosk in der Sahelzone. Der Mann hinter dem Tresen von Easyjet hatte entweder täuschend echte Augen auf die Lider gemalt, oder ein Zweig seines Stammbaums war irgendwann vor vierzig Jahren von der »Horst und Elfriede Krokuschinski«-Bahn abgeknickt und in die Reptilienecke eingebogen.
Er blinzelte nicht. Er lächelte auch nicht, aber er war, soviel stand fest, ein starres Hindernis. Er wirkte trotz der Abwesenheit der für Schaltermenschen vorteilhaften Vitalfunktionen recht massiv.
Ãber ihm hing ein Schild, und der Text war mir geläufig.
30 MINUTEN VORHER!
WIR WARTEN NICHT AUF SIE! WENN WEG, DANN WEG!
Mir lief die Zeit davon.
»Hallo«, sagte ich und fuchtelte mit meiner Onlinebuchungsbestätigung.
Der Mann hinter dem Schalter war so geistesgegenwärtig, sein flaches Ausatmen direkt mit der Ansage der Tageszeit zu verknüpfen.
»Tag«, sagte er und hielt die Hand auf. Ich wurde das Gefühl nicht los, eine Lebensform im Grundschlummernahtodmodus vor mir zu haben, ähnlich wie mein Laptop, wenn es vom Stromnetz getrennt wurde. Vermutlich stand unter seinem Stuhl ein Zinkeimer, um ihn nicht mit komplexen körperlichen Tätigkeiten wie Aufstehen zu überfordern, wenn die Natur rief.
»Koffer«, sagte er.
»Richtig«, erwiderte ich. Lange Sekunden versickerten. Ich dachte an DalÃs Bild von der zum Trocknen aufgehängten Uhr.
»Ach so.« Ich stellte meinen Koffer aufs Band neben dem Schalter und lächelte den Hartschalenmann an.
Die Waage zeigte unfassbare 28,3 Kilogramm.
Bei Koffern mit Rollen merkt man die Schwere nicht so, und als ich das Biest aus meinem Auto gewuchtet hatte, war ich geneigt gewesen, das Gewicht auf meine vom Haareraufen geschwächten Oberarme zu schieben.
»Da sind nur drei, vier Teile drin«, sagte ich.
»Jaaaa«, sagte der Schaltermann gedehnt. »Eine Ritterrüstung?«
»Das ist lustig«, sagte ich. Dann zerrte ich den Koffer von der Waage und öffnete ihn.
Die Schwerkraft war schuld. Die Schwerkraft war eine böse Macht. Die Schwerkraft, in Fachkreisen auch schmissig »Gravitation« gerufen, förderte aber auch Dinge ans Licht, deren man lange nicht mehr ansichtig geworden war. Während meine Leibwäsche am Grund des Koffers verzurrt war und ihrer Befreiung harrte, war meine
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