Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
wiederholen?«, bat ich.
Der Richter wiederholte seine Frage nicht, woran er gut tat. Es war Anfang der neunziger Jahre, verhandelt wurde das Abtreibungsgesetz, der Paragraph 218 des Strafgesetzbuches. Als Hamburger Justizsenatorin hatte ich mich für die Fristenlösung ausgesprochen, also dafür, dass Frauen innerhalb einer Dreimonatsfrist selbst entscheiden können, ob sie eine Schwangerschaft fortführen oder nicht. Diese Haltung hatte den Richter des Bundesverfassungsgerichts zur Promiskuitätsfrage verleitet.
Im Saal herrschte betretenes Schweigen, alle rangen nach Luft – bis auf eine, Regine Hildebrandt. Sie war SPD-Politikerin, ehemalige DDR-Bürgerin, Ostberlinerin und nun Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen in Brandenburg. Sie stürmte nach vorn vor den Richtertisch, stemmte ihre Hände in die Hüften, drehte sich einmal um sich selbst und rief: »Das glaube ich nicht! Wo bin ich denn hier eigentlich?« Ihre Stimme wurde immer lauter, wütender. Alles erstarrte. Und während der Präsident noch überlegte, wie er die Frau wohl zum Schweigen und zurück auf ihren Platz bringen könne, kam sie erst richtig in Fahrt. »Das kann doch überhaupt nicht sein. Hier sind alles alte Männer, die wollen über den Bauch der Frauen entscheiden! Es ist unfassbar …« Ungefähr fünf Minuten dauerte ihre Tirade. Sie sprach vielen aus dem Herzen. Aber selbstverständlich darf man sich so nicht vor dem Bundesverfassungsgericht verhalten.
Ich habe dort immer pointiert und detailliert argumentiert, was ich weiterhin für das Richtige halte. Auf der anderen Seite dachte ich in jenem Moment: Vielleicht ist es gar nicht schlecht, dass da einmal jemand so leidenschaftlich dazwischenfährt. Regine Hildebrandt war eine sympathische, emotionale und impulsive Frau. Ihr Auftritt in der bisweilen sterilen Atmosphäre des Bundesverfassungsgerichts hatte etwas Erfrischendes. Da saßen tatsächlich lauter ältere Herren, einer davon erzählte etwas von der Promiskuität der Frauen. Ich dachte: Regine Hildebrandt wird uns mit ihrem Wutausbruch in der Sache nicht geholfen haben ; aber vielleicht hat sie den einen oder anderen ein bisschen wachgerüttelt.
Es war der zweite Prozess um Paragraph 218, bei dem ich vor dem Bundesverfassungsgericht sprach. Der erste hatte zwanzig Jahre zuvor stattgefunden. Bis zu jenem ersten Prozess waren Schwangerschaftsabbrüche mit nur wenigen Ausnahmen strafbar gewesen. Das sollte in den siebziger Jahren geändert werden, die Beratungen kreisten um die Frage: Fristen– oder Indikationslösung? Auf Deutsch: Sollte es Frauen erlaubt werden, Abtreibungen innerhalb einer bestimmten Frist nach Empfängnis vornehmen zu lassen? Oder sollten sie nur dann abtreiben dürfen, wenn sie gegenüber Gutachtern beweisen konnten, dass sie sich in einer Notsituation befanden?
Der Deutsche Bundestag beschloss die Fristenlösung, was sofort Verfassungsbeschwerden nach sich zog. Das Bundesverfassungsgericht lud den Deutschen Juristinnenbund ein, eine Stellungnahme abzugeben. Um in einer so sensiblen Frage Stellung beziehen zu können, veranstalteten wir die erste Mitgliederbefragung in der Geschichte des Juristinnenbundes. Jedes Mitglied wurde gefragt: Soll eine Fristen– oder eine Indikationslösung eingeführt werden? Das Ergebnis war eine deutliche Mehrheit für die Fristenlösung, die auch meinem Rechtsempfinden entsprach. Am Ende gab das Bundesverfassungsgericht dennoch der Verfassungsbeschwerde gegen die Fristenlösung recht. Aber es gab zwei dissenting votes , zwei Verfassungsrichter des Senats sprachen sich für eine Fristenlösung aus und veröffentlichten ihre Meinung auch. Es waren von mir hochgeschätzte Juristen: Wiltraut Rupp-von Brünneck, die einzige Frau in dem Senat und Mitglied des Deutschen Juristinnenbundes, und Helmut Simon.
Zum zweiten Prozess um Paragraph 218 kam es Anfang der neunziger Jahre im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung. In der DDR hatte es ein liberaleres Abtreibungsrecht gegeben als in der Bundesrepublik. Nun war das Gesetz der Bundesrepublik dem der DDR angepasst worden, die Fristenlösung mit Beratungspflicht wurde gesamtdeutsches Gesetz, da es keine Begründung dafür gab, den DDR-Frauen ein Recht zu nehmen, das ihnen jahrzehntelang zugestanden hatte. Abtreibungsgegner riefen wiederum das Bundesverfassungsgericht an. Die Regierungen aller Länder wurden geladen. Manche Ministerpräsidenten kamen persönlich, andere schickten einen Fachminister. Ich
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