Selig in Kleinöd: Kriminalroman (German Edition)
langsam neugierig wurde. Doch er fragte nicht nach. Das Leben hatte ihn gelehrt, dass seine Fragen sowieso nie beantwortet wurden.
Sein Schweigen schien sie nicht zu irritieren. In aller Ruhe wühlte sie in ihrer kolossalen Handtasche und legte schließlich einen braunen Umschlag auf den Tisch. Andächtig faltete sie dann ihre unberingten Hände, legte sie auf das Kuvert und seufzte theatralisch. »Es geht um eine Erbschaft.«
Spätestens in diesem Augenblick hatte er gewusst, dass sie sich vertan haben musste. Bei ihm war nichts zu holen. Das wenige, was seine Mutter besessen haben mochte, war zur Gänze in den Spirituosenregalen des Supermarktes versickert.
Damit sie nicht gleich ihren Irrtum bemerkte und ebenso plötzlich wieder verschwand, wie sie gekommen war, schenkte er ihr Kaffee nach und setzte sich erwartungsvoll an den Tisch. Sein Lächeln war jetzt müde und resigniert. Wenigstens würde dieser Sonntagnachmittag nicht so tödlich langweilig sein wie sonst.
Die Fremde berichtete lang und breit von ihrer Freundschaft zu einer Frau namens Agnes. Meinrad erfuhr, dass diese Agnes inzwischen verstorben war. Da er sie eh nie gesehen hatte, war ihm das ziemlich egal, doch er hörte ihr weiterhin zu, ohne sie ein einziges Mal zu unterbrechen.
»Also diese Agnes, was ja meine Freundin g’wesen ist, also die hat eine Schwester gehabt, wobei die Schwester zum Glück immer noch lebt und Malwine heißt, Malwine Brunner. Verstehen S’, die Malwine ist die Tochter Ihres Großvaters, also quasi Ihre Tante.«
Sie hob den Kopf und sah ihn erwartungsvoll an.
Er wurde blass, und sein Herz klopfte bis zum Hals. Mit eigenartig heiserer Stimme wollte er wissen: »Sie kennen meinen Vater, wo find ich den?«
»Nein, nicht direkt.« Sie schüttelte den Kopf und wühlte erneut in ihrer riesigen Handtasche. Schließlich brachte sie etwas zutage, was wie eine biblische Schriftrolle aussah.
»Jetzt putzen wir erst amal den Tisch ab«, kommandierte sie, räumte Teller und Tassen beiseite und sah zu, wie er erst feucht wischte und dann trocken nachpolierte. Sie setzte ihre Lesebrille auf und entrollte das Papier.
»Sodala, jetzt schaun S’ amal. Das hier nämlich ist der Stammbaum der Familie Harbinger. Es hat mich ziemlich viel Aufwand gekostet, das alles hier zusammenzutragen und in die richtige Ordnung zu bringen. Sogar auf dem Standesamt bin ich g’wesen, und der Wilhelm hat mir nach langem Zureden seine Kirchenbücher überlassen. Fast vier Tag hab ich an dem Ding geschrieben.«
Immer noch sprachlos starrte er auf die Stammtafel. Harbinger, was ging ihn das denn an? Nicht ein Mal hatte seine Mutter diesen Namen erwähnt.
Sie lächelte verständnisvoll. »Okay, Sie haben sicher noch nie so was g’sehn. Sie müssen jetzt auch nicht gleich alles studieren. Aber schaun S’ mal, hier steht meine Agnes und dort ihre jüngere Schwester, die Malwine.« Sie wies mit dem Zeigefinger auf zwei eingekastelte Namen. »Und die beiden hatten doch zwei Brüder. Der eine von denen, der erstgeborene Sohn eben, also der hat den Hof übernommen, aber irgendwie hat’s bei dem ned klappt: Die hatten halt nie einen Klapperstorch zu Besuch.« Sie zwinkerte verschwörerisch.
»Hm«, murmelte er.
»Und meine Agnes, also die ist ja jungfräulich g’storben, weil sie so ein herzensguter Mensch war und auch eine Heilige, also immer nur für die andern da. Erst als Krankenschwester und dann als Wundertäterin. Also die hat auch keine Kinder – sonst wär es ja ein fast so großes Wunder wie bei unserer Gottesmutter …«
Ehrfürchtig schwieg sie einen Augenblick.
»Also, da ham mir die Agnes und den ältesten Bruder – beide kinderlos. Malwine hat dann den Brunner Hannes g’heiratet und ihm einen Sohn g’schenkt, aber der ist ziemlich früh verstorben. Schaun S’ hier.« Sie wies mit dem Zeigefinger auf eine Stelle unterhalb von Malwines Namen.
»Hermann Brunner« stand dort mit Geburts- und Sterbedatum. Meinrad sah auf einen Blick, dass dieser Hermann gerade mal dreißig Jahre alt geworden war, doch noch bevor er nach der Todesursache fragen konnte, schnellte Marthas Finger eine Zeile höher. »Da ham mir also schon drei von den vier Geschwistern – alle ohne noch lebende Nachkommen –, aber hier gibt’s noch den Andreas, und das müsst Ihr Vater sein.«
Meinrad Hiendlmayr sah sie lange an, schluckte und gab dann die bittere Wahrheit preis: »Ja mei, Harbinger, das kann scho sein, aber damit habe ich nix zum tun. Ich heiß
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