Selig in Kleinöd: Kriminalroman (German Edition)
wirklich eine besondere Substanz ist. Wir müssen uns an Tatsachen halten, Schmiedinger, an reale Fakten. Nicht an Erzählungen von angeblichen Wundern. Auch wenn das hier grad mal wieder Hochkonjunktur hat.«
Als sie sich suchend umsah, entdeckte sie am Stamm eines Walnussbaums einen langstieligen Apfelpflücker, nur dass am Stiel kein Pflücknetz, sondern eine Schöpfkelle befestigt war. »Wie praktisch. Haben Sie eine Dose oder so was?«
Der Polizeiobermeister zog aus seiner rechten Anzugjacke einen hellblauen Plastikbehälter und gestand verschämt: »Meine Brotzeitdose. Die macht die Frieda mir jeden Tag. Dabei bin ich doch schon lang kein Schulkind mehr. Warten S’ kurz.« Er entnahm einen Apfel und zwei dick mit Käse und Tomaten belegte Vollkornbrote, dann reichte er ihr die Dose.
Franziska spürte, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief. »Das sieht aber lecker aus.«
Er nickte. »Die Frieda will, dass ich g’sund bleib. In den Blauen Vogel geh ich deshalb auch ned mehr so oft. Frieda sagt, zu viel Bier ist ungesund. Ich glaub, der Eduard ist deswegen schon leicht verärgert. Früher ham mir uns immer abends dort getroffen. Na ja, man kann nicht alles haben. Seit die Frieda bei mir wohnt, zieht’s mich gar ned mehr so zum Schafkopfen hin. Man will ja auch a bisserl Familie ham, oder?«
»Genau.«
Die Kommissarin zog sich Latexhandschuhe über und holte mit der langstieligen Kelle eine schlammige, aber geruchlose Flüssigkeit aus dem Bohrloch, die sie in die hellblaue Brotzeitdose des mittlerweile so gesund lebenden Polizeiobermeisters füllte.
Schmiedinger nahm den Schlüsselbund wieder zur Hand. »Die Malwine hat in ihrer Garage für jedes Schloss in Haus und Hof mindestens einen Zweitschlüssel aufbewahrt«, verkündete er und fügte hinzu: »So eine war das, die Malwine. Alles doppelt und dreifach, damit sie nie jemanden fragen muss. Damit keiner auf die Idee kommt, dass ausgerechnet sie Hilfe bräucht.«
»Na ja, bis hier Hilfe gekommen wäre – das hätte schon eine Zeit lang dauern können.« Franziska schloss die Dose und zog die Schutzhandschuhe aus.
»Sollen wir ins Haus gehen und nach diesem Meinrad suchen? Ich tät wirklich zu gern wissen, wo das Bürscherl abgeblieben ist.«
»Dazu haben wir keine Befugnis, erstens ist keine Gefahr im Verzug, zweitens sind wir nicht mit den Ermittlungen betraut, und drittens ist dieser Meinrad in keinster Weise verdächtig«, wies Franziska ihn zurecht.
Adolf Schmiedinger schluckte, schwieg und starrte auf das braune Zelt über dem Bohrloch. Der beim Umfüllen auf den Asphalt getropfte Schlamm war eingetrocknet und gab winzige weiße Kristalle frei, in denen sich das Sonnenlicht brach.
Die Kommissarin brachte den Hund in seinen Auslauf, befreite ihn von der Leine und kippte einen kleinen Nachschlag Trockenfutter in den halb leeren Napf. Dann ging sie in die Hocke und lobte Joschi, der brav sein Wasser zu schlabbern begann. Als sie sich wieder aufrichtete, stand plötzlich Schmiedinger hinter ihr.
»Wissen S’ was, ich fahr heut auf d’Nacht noch amal vorbei. Auf der Heimfahrt zu meiner Frieda mach ich einen kleinen Schlenker. Vielleicht ist er dann ja daheim. Zumindest scheint er sich um den Hund zu kümmern. Soll ich Sie anrufen, wenn er da ist?«
Sie lächelte, und eigenartigerweise fühlte er sich augenblicklich wieder mit der Welt versöhnt. So ging es ihm auch mit seiner Frieda. Unglaublich, über welche Fähigkeiten die Frauen verfügten. Die Kommissarin schien ihn also doch zu schätzen. Er war wichtig für sie.
»Gern«, sagte sie. »Machen Sie einen Termin mit diesem Meinrad. Er soll bei mir vorbeikommen, sobald er Zeit hat. Am besten gleich morgen.«
Vielleicht hätte er sich krankmelden sollen. Es ging ihm ja auch wirklich nicht gut. Sein Kummer verwirrte ihn. Einst war er so geübt darin gewesen, allein zu leben und sich einzurichten in Langeweile, Mittelmaß und der sonntäglichen Kunst des Zeittotschlagens. Damals ging die Welt ihn nichts an, und in jener verstrichenen Ära hatte ihn auch nichts erschüttern können. Aber dann? Freiwillig hatte er diesen so sicheren Raum aufgegeben und war zu seiner Tante gezogen. Alles im Leben wurde bestraft. Für einen wie ihn hatte das Schicksal kein Glück vorgesehen.
Mit eiskalten Fingern tippte er den Warenbestand an Holzregalen in seine Liste und sah, dass das Frühwarnsystem blinkte. Jetzt würden die Leute wieder Zwetschgen einmachen und Kürbisse einlegen und ihre Speisekammern
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