Selig in Kleinöd: Kriminalroman (German Edition)
winterfest machen. Dabei wurde erfahrungsgemäß so manches Regal erneuert. Es war an der Zeit nachzubestellen.
Seine Hände zitterten. Auch seiner Tante hatte er eine neue und geweißelte Speis versprochen und dafür das lange Wochenende um den 3. Oktober eingeplant. Das würde jetzt nicht mehr nötig sein. Er schluckte.
Malwine hatte ihn aufgenommen wie einen Sohn, und er hatte gespürt, dass er tatsächlich ein wenig ihren verstorbenen Sohn zu ersetzen schien. Aber sie hatten nie darüber gesprochen. Jetzt war sie wieder bei ihrem Kind und auch bei ihrem Mann – vielleicht.
Für den Tod einer Tante war in der Betriebsvereinbarung des Baumarktes kein freier Tag vorgesehen. Nur für Vater, Mutter, Kind. Beim Tod seiner Mutter hatte er auf diesen zusätzlichen Urlaubstag verzichtet, denn Beate Hiendlmayr hatte sich schon so lange und so weit von ihm entfernt, dass ihm ihr letzter Atemzug wie das sanfte Zufallen einer Tür erschienen war. Da war kein Kummer zu spüren gewesen, eher so etwas wie stille Resignation und die Bestätigung des uralten Wissens, dass alles irgendwann einmal vorbei war.
Er hatte sie nachts um vier husten hören und war, entgegen seiner Gewohnheit, aufgestanden, um nach ihr zu sehen. Mit verzerrtem Gesicht lag sie in ihrem Bett. Um sie herum standen ein Dutzend halb leerer Flaschen wie besorgte Verwandte. Sie hatte um sich geschlagen und »anders« gelallt – und erst jetzt, hier im Baumarkt, in genau dieser Sekunde, wurde ihm klar, dass sie nicht »anders« gerufen hatte, sondern »Andreas«.
Den Namen seines Vaters.
Anders, hatte er damals gedacht, sie will, dass alles anders ist, und sie hat so verdammt recht damit. Er hatte auf sie hinuntergesehen, wie sie in ihrem grauen Baumwollnachthemd dalag, das verschwitzt war und voller Flecken, und er hatte sich nicht getraut, sie aus ihrem Albtraum herauszuholen oder ihre Hand zu halten. Ihm war klar geworden, dass er sich vor ihr fürchtete.
Eine Stunde später war sie tot.
Erst um sieben Uhr morgens hatte er den Hausarzt angerufen, den er nicht vorher aus dem Schlaf hatte reißen wollen. Der hatte was von gebrochenem Herzen gesagt und dass dieses Mutterherz nun für immer stillstehe. Dürftige Beileidsbezeugungen waren über seine Lippen gekommen, während er in seiner Arzttasche nach einer Karte des Bestattungsdienstes suchte. Verwundert hatte Meinrad ihm zugesehen und sich gefragt, ob da möglicherweise Provisionen flossen.
Wenig später hatte er zwei schwarz gekleideten Herren mit trauerumflorten Mienen seinen Haustürschlüssel in die Hand gedrückt und war anschließend wie immer zur Arbeit gefahren. Wohin auch sonst? Als er nach acht Stunden heimkam, lag der Schlüssel wie abgesprochen im Briefkasten, und sie war fort. Alle Zimmer schienen plötzlich größer und heller zu sein.
Einen Tag später lag sie aufgebahrt in der kleinen Leichenhalle am Friedhof. Entspannt, sauber und ohne diesen gierigen Zug um den Mund. Sie sah aus, als habe sie endlich Ruhe gefunden. Als er dort neben ihr stand und auf ihre rosenkranzumwickelten Hände sah, war ihm erneut klar geworden, dass sie nichts miteinander zu tun hatten. Zu Lebzeiten nicht und jetzt erst recht nicht mehr. Niemand schien um sie zu trauern.
Er hatte sie in der Abteilung Sterbe- und Geburtenregister des Kleinöder Gemeindeamtes abgemeldet, während neben ihm eine Frau stand, die ihr gerade vier Tage altes Kind anmeldete, das den eigenartigen Namen Eulalia-Sophie Halber tragen würde. »Halber, wie ganzer Kuchen«, hatte die junge Frau gesagt und gelacht. So nah also lagen Leben und Tod beieinander.
Nach Malwines Tod aber war alles anders. Er konnte sich nicht konzentrieren, und er machte Fehler. Dauernd ging ihm seine Tante durch den Kopf. Wo war sie eigentlich jetzt? Was machten sie mit ihr? Er hätte sich gleich kümmern müssen.
Kapitel 5
»Was?« Der ständig gerötete Kopf des Bürgermeisters wurde um eine winzige Nuance dunkler. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn, und er schnappte nach Luft. »Ich fass es nicht! Ja Herrschaftszeiten! Was soll das denn nun schon wieder?« Mittlerweile schrie Markus Waldmoser so laut, dass seine russlanddeutsche Sekretärin Olga Oblomov besorgt die Tür öffnete und ins Zimmer spähte.
Ihr Chef hielt sich das Telefon ans linke Ohr und umrundete mit stampfenden Schritten seinen Schreibtisch, auf dem sich die Aktenberge türmten. Wütend schnaubte er in den Hörer: »Und da sagen S’ mir ned Bescheid, nein, wieso auch, Sie
Weitere Kostenlose Bücher