Selig in Kleinöd: Kriminalroman (German Edition)
großartigen Künstlerin gegeben. Sie vermisste die Binder und stellte sich vor, dass die Kunstprofessorin, als eine Art Erinnerung an sich selbst, kurz vor ihrer Abreise die gewaltige Skulptur in ihren Vorgarten gestellt hatte, hinter der sich der Todesschütze versteckt haben mochte: eine relativ schlanke Riesin, nackt und mit hochgezogenen Schultern, aus deren Kopf Lorbeerblätter zu wachsen schienen – kein Lorbeerkranz, sondern einzelne, ungeordnete Blätter. Und obwohl die Gesichtszüge sanft waren, ging von der Gestalt etwas Beunruhigendes, Bedrohliches aus. Als versteckten sich noch immer schießwütige Schufte hinter ihren stämmigen Oberschenkeln.
Sie schüttelte den Kopf und fuhr die Kriminaltechniker ungewöhnlich harsch an: »Ich hoffe, ihr habt alles sorgfältig fotografiert und ausgemessen, damit wir später die Richtung rekonstruieren können, aus die der Schuss gekommen sein muss. Ich brauche absolut präzise Angaben, um den Schusskanal zu rekonstruieren. Also, keine Schlamperei!«
»Das wird schwierig sein.« Gustav Wiener richtete sich auf und zog seufzend seine blutigen Handschuhe aus. »Wenn mich nicht alles täuscht, stand unser Opfer an seinem Wagen und hatte gerade die Bücher in die Hand genommen, als er von den Kugeln durchbohrt wurde. Dann hat er sich reflexartig noch mal aufgerichtet und ist erst danach zu Boden gegangen. Wir können also nur annähernd berechnen, wie er sich beim Aufrichten bewegt hat. Tut mir leid, aber das mit dem genauen Schusskanal können Sie eigentlich schon wieder vergessen.«
»Mist!« Franziska holte tief Luft und wandte sich der Gruppe von Schaulustigen zu. Es machte sie aggressiv, die ganze Zeit von einem Pulk tuschelnder Menschen umgeben zu sein.
Mit schneidender Stimme erkundigte sie sich deshalb bei den Zuschauern: »Hat hier jemand heute Abend gegen neunzehn Uhr eine Person mit einen Jagdgewehr gesehen?«
»Eine?«, fuhr der inzwischen eingetroffene Bürgermeister sie an. »Wir waren mindestens elfe oder zwölfe. Ich hab nämlich heuer meine erste Treibjagd gegeben. A sauberes Kesseltreiben war des. Und erlegt wurden Hasen, Fasanen, ein Reh und sogar eine Wildsau. Wenn Sie wollen, können Sie meine Strecke betrachten. Liegt alles noch im Garten, direkt vor der Elise ihrem Treibhaus. Mei, und ein Superwetter ham mir auch noch g’habt.« Er sah auf die inzwischen von einem weißen Tuch bedeckte Leiche und fügte hinzu: »Von meinen Leuten war das keiner, so ein hinterhältiges Rumgeballere ist unsere Sache nicht. Wir kümmern uns um die Jagd und um die Hege und Pflege von den Tieren des Waldes halt. Was wir geschossen ham, hat entweder vier Beine oder ein Federkleid, aber ein Zweibeiner, so wie der da einer ist, so was ist nicht darunter.« Er lachte ein wenig zu laut und sah sich beifallheischend um. Einige seiner Claqueure grinsten gequält. Franziska merkte sich deren Gesichter.
Jetzt kannte sie diesen Waldmoser schon seit einigen Jahren, und er wurde ihr immer unsympathischer. Dieser selbstgerechte Herr von eigenen Gnaden, Herrscher von und über Kleinöd, Bürgermeister, Gurkenbaron und Vorsitzender des örtlichen Fußballvereins in einem. Was für ein überhebliches und eitles Mannsbild! Er und seine Familie hatten hier seit Generationen das Sagen, und das ließ er jeden Einzelnen spüren. Vermutlich war es eine ungeheure Ehre, zur Waldmoserschen Treibjagd eingeladen zu werden. Wer auf dieser Liste stand, hatte es geschafft und durfte zur rechten Zeit mit den richtigen Tipps und Vergünstigungen rechnen. Aber nicht mit ihr.
Schade, dass Bruno nicht da war. Ihr eleganter und in jeder Lage eloquenter Kollege. Mit seiner selbstverständlichen Arroganz hätte er den Bürgermeister angesehen, ab und zu ein klein wenig den Kopf erhoben, unmerklich die Nasenflügel gebläht und den Wortschwall des Waldmosers mit gut platzierten »Ahas«, »Ohos« und »Ach-was« an genau den Stellen unterbrochen, die sich dann als offensichtlicher Schwachsinn offenbaren würden.
Sie, Franziska, konnte so etwas nicht. Leider. Diese Fähigkeit hätte sie zu gern besessen. Andererseits war es vielleicht besser, nicht gleich verhärtete Fronten aufzubauen, sondern sich in dieser Situation den Einfluss des Bürgermeisters zunutze zu machen. Sie bemühte sich um einen sachlich-kollegialen Ton: »Wenn Sie hier schon alle kennen: Die Ersten, die über diesen Fall etwas an die Presse oder überhaupt nach draußen geben, das sind wir, und das heißt in diesem Falle: ich. Da
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