Selig in Kleinöd: Kriminalroman (German Edition)
auch gekannt. Mein Wilhelm hat es mir so gesagt, und der muss es ja wissen. Dem sein Grab wird schon ausgehoben.«
»Bei euch?«, hakte Meinrad nach, obwohl es ihn nicht wirklich interessierte.
»Ja, weil das der Verlobte von der Halber Gertraud war und die will, dass er immer bei ihr und dem Kind in der Nähe ist.«
»Und wer ist Gertraud Halber?«
Fassungslos schien sie nach Luft zu schnappen und stellte dann vorwurfsvoll fest: »Meinrad, du weißt ja gar nichts! Ist ja auch egal, aber stell dir vor, die hat überhaupt keine Sterbebildchen drucken lassen. Nicht ein einziges. Nur vierzig Trauerkarten mit einem Bild von dem Verblichenen. Vierzig, damit kriegt sie ja nicht mal die halbe Kirche voll. Was meinst du, kann das sein, dass die nicht will, dass da mehr Leute kommen? Aber so einer, der doch ein Doktor ist und auch noch forschend tätig war, der kennt doch einen Haufen Leut, die von ihm Abschied nehmen müssen.«
Er hörte ihr nicht richtig zu, andererseits wollte er irgendwie das Gespräch in Gang halten. Solange Martha mit ihm redete, war das große Haus nicht ganz so beängstigend. »Wo wohnt die denn?«
»Hier bei uns in Kleinöd, direkt gegenüber von den Blumentritts, weißt schon, von dem Herrn Lehrer mit der italienischen Frau. Rücker und Döhring steht am Briefkasten. Die Gertraud aber heißt Halber. Willst sie vielleicht mal besuchen? Geteiltes Leid ist halbes Leid. Außerdem kannst du ihr das mit den Sterbebildchen noch mal sagen. Vielleicht hört sie ja auf dich. Na gut, dann sehn mir uns halt am Samstag um zehn Uhr auf dem Friedhof. Bis dann.«
Dann legte sie auf, ohne sich seiner Zustimmung zu vergewissern.
Das Wort Basilika spukte seit Montag in ihrem Kopf herum. Sobald sie vor das Pfarrhaus trat oder sich in ihrem Zimmer ans Fenster stellte, vermeinte sie, die Kirche drüben am Brunnerhof zu erkennen. Gleißend im Sonnenlicht. War es die selige Agnes, die ihr diesen Blick in die Zukunft gewährte?
Es würde ein einzigartiger Prachtbau sein, mit weißen Marmorsäulen, einem atemberaubenden Triumphbogen und bunten Bleiglasfenstern. Wer sich in dem Gebäude aufhielt, würde von den Bildmotiven der Fenster verzaubert werden und anhand der farbigen Mosaike die Lebensgeschichte der heiligen Agnes nachvollziehen können. Morgens, wenn die Sonne durch die Ostfenster schien, würde man im rechten unteren Drittel des mittleren Fensters ein Porträt der Moosthenninger Martha entdecken können, klein und bescheiden, wie die Martha ja nun auch war, und die Besucher würden während ihres andächtigen Rundgangs den ausliegenden Handzetteln entnehmen können, dass es dieses wunderbare Gebäude, diesen Ort der Kraft und der Genesung, ohne Marthas Initiative nie gegeben hätte – ebenso wenig wie die heilende und wundertätige Quelle.
Sie seufzte ergriffen und räumte das Frühstück vom Tisch. So würde sie, Martha, in die Geschichte eingehen.
Bruder Ägidius hatte zum Frühstück nur vier Semmeln und zwei Eier im Glas gegessen und war, nachdem er die letzte Tasse Kaffee getrunken hatte, vom Tisch aufgestanden und in seinem Gästezimmer verschwunden.
Vorhin war sie an seiner Tür vorbeigegangen, die nur angelehnt gewesen war, und hatte beobachtet, wie er konzentriert auf seinem kleinen Computer tippte. Er hatte sein Gesicht dem Fenster zugewandt und saß mit dem Rücken zum Flur. Neben ihm lag ein Notizheft. Er arbeitete angespannt und mit hochgezogenen Schultern und schien die Sätze, die er in die Tastatur hackte, zunächst murmelnd auszusprechen, als müsse er sie erst abschmecken. Leider murmelte er so leise, dass sie nichts verstand.
Dennoch: Sie frohlockte. Bald würde ihrer Freundin Agnes Gerechtigkeit und Anerkennung widerfahren, und auch ihr eigenes Leben würde nicht völlig umsonst gewesen sein.
Später, als sie Kartoffeln schälte und Rosenkohl putzte, kam er die Treppe herunter. Sein grauer und offensichtlich viel zu großer Anzug umflatterte ihn wie eine Fahne. Er fragte, ob er sich zu ihr an den Küchentisch setzen könne. Es gäbe etwas zu besprechen. Beinahe reflexartig stellte sie Zwieback und ein Körbchen mit Walnüssen aus dem vergangenen Jahr vor ihn hin. In der Küchenschublade fand sie den Nussknacker. Er bediente sich.
Es fiel ihr schwer, ihre Aufregung zu verbergen. Krampfhaft suchte sie nach einem unverfänglichen Thema, doch sie fand keins. Sollte sie ihm etwa erzählen, was es zum Mittagessen geben würde – nein, das war wirklich zu profan. Da saß er vor ihr,
Weitere Kostenlose Bücher