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Sense

Sense

Titel: Sense Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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zu sagen, was es war. Obwohl, nein. Es war ein Ausraster, keine Frage. Eine kolossale Entgleisung. Eine Kombination aus Frust und Übermüdung, eine Trotzreaktion im Affekt, ein Filmriss. Schwer zu sagen bleibt, was mich dazu brachte. Vielleicht war es nur eine Aufforderung zu viel gewesen, mich, wenn ich schon unbedingt mit reinwollte, von da ab absolut ruhig und unauffällig zu verhalten, um ja nicht das Spiel zu stören, das überall mit großem Ernst zelebrierte Spiel, und wahrscheinlich kam auch noch eine schlecht dosierte Menge einer Droge hinzu, die ich noch nie besonders gut vertragen habe. Was auch immer, das Ergebnis war verheerend.
    Wir rollten, von Recklinghausen kommend, über die Bahn nach Essen, Mülheims großer, ernster Schwester, zu der zum dritten Mal hintereinander nun wirklich aber allerletzten Adresse, zu der ich in dieser Nacht noch zu fahren bereit war, als ich etwas unerwartet von einem heftigen, rhythmischen Scheppern aus Morpheus' watteweichen Armen gerissen wurde.
    Mit momentanem Nichtsbegreifen beobachtete ich nacheinander mehrere rot-weiß gestreifte Begrenzungsschilder einer Baustelle krachend unter dem rechten vorderen Kotflügel des Crown verschwinden, bevor ich den eindringlich vom Rücksitz aus geäußerten Mahnungen Folge leistete und das Lenkrad ein paar Grad nach links drehte. Am Steuer eingeschlafen! Keine Erfahrung, die man öfter machen möchte. Und öfter machen kann, so gesehen. Nicht, um nachher davon zu erzählen auf alle Fälle.
    Ich kämpfte noch ein bisschen mit dem Schock, hin- und hergerissen zwischen >immer noch nicht wieder ganz wach< und einem Puls, der pulsierte wie ein zur rollenden Bassbox umgebauter Kleinwagen, da wurde mir von hinten eine schwarze Filmdose angereicht, aus der oben ein Glasröhrchen ragte.
    »Erfrisch dich ein bisschen«, mahnte Scuzzi an meinem Ohr, »bevor du uns beide noch in ein flaches Grab beförderst.«
    Irgendwie schienen seine Worte Sinn zu machen, also rammte ich mir das Röhrchen ins Nasenloch und schnorchelte ein unmöglich zu schätzendes Quantum glitzernden Pulvers mit Macht hinauf bis in die letzten Ecken meiner Stirnhöhle. Ein kleiner Countdown aus Tränchenwegzwinkern, einmal Schlukken und dem Geschmackssinn Bisbald!-Winken und zwei-, dreimaligem Rotzeflusshochziehen, und - Lift off! - ein Trok-keneisnebel legte sich kalt und, wenn schon nicht heilend, so doch zumindest lindernd über mein strapaziertes, wund gescheuertes Gehirn. Mit einem kaum wahrnehmbaren, heimlichen Zischen, einem Geräusch wie Kippe in Bierlache, löschte er mir nebenbei das letzte Glimmen von Verstand.
    Aah, das war nötig gewesen! Jetzt saufen! Ich forderte und bekam einen Cognac. Und rauchen! Ich forderte und bekam einen Joint, an dem ich sog, dass es einen Rastafari aus den Badelatschen gehauen hätte.
    Mehr Koks? Warum nicht? Auf einem Bein kann man nicht stehen. Haha! Her damit!
    »Endlich nimmst du Vernunft an«, meinte Scuzzi.
    Die Abfahrt meisterten wir in einem einzigen, sauberen Halbkreisbogen, die ganze Zeit exakt an der Haftgrenze der Reifen entlang. An der folgenden, roten Ampel aktivierte ich den Kickdown in exakt dem Moment, als der Strom in die gelbe Birne zu kriechen begann. Ich war ohne jeden Zweifel der größte aller Autofahrer. Scharfäugig, reaktionsschnell, eins mit der Technik. Vergleiche zu bekannteren Rennfahrern drängten sich auf, hielten dann aber einer näheren Betrachtung nicht stand: Mit 'nem Ferrari schnell fahren kann schließlich jeder.
    Wir stoppten vor einer Stadtvilla in einem südlichen, äußerst gediegenen Viertel von Essen, und ich war noch nie so wach, noch nie so energiegeladen gewesen. Ich brauchte nur mit dem Finger zu schnippen, und Funken stoben in alle Richtungen. Ich hatte plötzlich die perfekte Übersicht, ich hatte Antworten auf sämtliche Fragen, ich hatte alles unter Kontrolle.
    Scuzzi äußerte etwas in dem Sinne von, ich solle besser im Wagen bleiben und mich bedeckt halten, dies hier seien uncoole Leute.
    Ich sagte nichts dazu. Konnte nicht. Seltsam, sicher, dass mir, wo ich doch alles unter Kontrolle hatte, ausgerechnet meine Kiefer nicht recht gehorchen wollten. Blieben fest und unverrückbar aufeinander gepresst, als ob mir andernfalls die Zähne auszufallen drohten.
    »Entspann dich«, sagte Scuzzi, und ich begegnete seinem Blick im Rückspiegel. »Warte hier beim Auto und geh ein wenig auf und ab. Denk an was Nettes. Atme flach und gleichmäßig. Das gibt sich gleich.«
    Doch ich wollte mich

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