Sensenmann
Patientin war, auch wenn er ihren Namen nicht genannt hatte. An seiner Miene sah sie, dass auch er ihr Begreifen bemerkt hatte, aber er tat so, als sei nichts geschehen.
»Jedenfalls hatte ich sie heute Vormittag in die Praxis bestellt, und sie ist nicht erschienen. Telefonisch habe ich sie auch nicht erreicht. Sie ist suizidgefährdet. Weil ich mir Sorgen gemacht habe, bin ich hierhergefahren, um nach ihr zu sehen.«
»Und?«
»Sie kam mir entgegen, als ich vor ihrem Haus wartete.«
»Also ist sie putzmunter, und du hast dir umsonst Sorgen gemacht.« Lara sah kurz Maria Sandmanns Gesicht vor sich.
»Zumindest äußerlich schien sie in Ordnung zu sein. Aber als sie mich gesehen hat, ist sie weggerannt.«
»Ich glaube das alles nicht…« Jo war noch immer verblüfft. »Und was willst du jetzt unternehmen?«
»Ich denke, ich fahre nachher noch einmal zu ihr und sehe, ob
sie zu Hause ist. Trotz der Tatsache, dass sie vorhin relativ stabil gewirkt hat, mache ich mir Sorgen. Ich denke, sie braucht meine Hilfe.«
»Und ich muss zurück in die Redaktion. Da brennt die Luft, hat Jo gesagt.« Lara lächelte den Fotografen an.
»Ich komme mit. Vielleicht brauchst du Beistand gegen die Aasgeier.« Er lächelte zurück und winkte nach der Rechnung.
»Wollen wir danach gemeinsam irgendwo zu Abend essen, ehe ich wieder nach Berlin zurückfahre?« Den Gedanken an die Reaktion seiner Frau auf sein ständiges Zuspätkommen verdrängte Mark. Sie einigten sich schnell auf einen Italiener nahe dem Opernhaus, bezahlten und brachen auf. Dass der Abend noch einige Überraschungen für sie bereithalten würde, wussten weder Mark noch Jo, und auch Lara hatte nicht den Hauch einer Ahnung.
44
DER BEGRIFF OVERKILL BEZEICHNETE IM KALTEN KRIEG DIE FÄHIGKEIT EINES STAATES, DEN GEGNER MEHR ALS NUR EINMAL ZU VERNICHTEN. URSPRÜNGLICH SOLLTE ER DIE SINNLOSIGKEIT DES ATOMAREN WETTRÜSTENS HERVORHEBEN. IN DER KRIMINALISTIK SPRICHT MAN VON OVERKILL, WENN DER TÄTER HANDLUNGEN BEGEHT, DIE MEHRFACH ZUM TODE DES OPFERS GEFÜHRT HÄTTEN, ER ALSO NACH TODESEINTRITT WEITER AUF SEIN OPFER EINSTICHT ODER ES VERLETZT.
In einiger Entfernung bellte ein Hund. Matthias spürte spitze Steinchen an seinen Knien und öffnete die Augen. Grün und sonnengelb blendete Licht durch dichtes Laubwerk. Gehetzt sah
er sich um. Er hockte in einem Park hinter einer Reihe von Rhododendronbüschen. Sein Rücken schmerzte. In seinem Kopf zeterten die Stimmen.
Die dicke Frau vor ihm röchelte. Ihre Augen waren verdreht, die Arme lagen vom Körper abgespreizt, Hände und Unterarme wiesen zahlreiche Schnittwunden auf. Auch Brust und Bauch zeigten ein unregelmäßiges Muster aus zerrissenem Stoff mit unzähligen roten Flecken. Es mussten mindestens dreißig Stiche gewesen sein, wahllos über den fetten Oberkörper verteilt. An ihrem Hals klaffte eine Schnittwunde von einem Ohr bis zum anderen wie ein viel zu rotes, zahnloses Maul.
Matthias betrachtete das Stillleben mit Unglauben. Lautlos tropfte Blut von der breiten Messerklinge in seiner Rechten ins vertrocknete Gras und sickerte ein. Das stetige Rinnsal aus der Halswunde der Frau hatte sich in einem kleinen roten See versammelt, der schon bald den dürstenden Boden nähren würde. Sie röchelte jetzt schwächer. Matthias beugte sich ein wenig nach vorn und sah in die mattblauen Augen. Etwas in ihr schien ihn zu erkennen, aber dann erlosch das Leben in ihnen, und ihr Kopf sackte zur Seite.
Wer war diese dicke Frau mit der Schweinenase? Jemand hatte ihr in wilder Raserei den Hals durchgeschnitten, und so wie es aussah, war er selbst dieser Jemand gewesen. Er beugte den Kopf noch ein wenig nach vorn und erkannte, dass die Schnittwunden auf dem rechten Unterarm der Frau kein wahlloses Durcheinander bildeten, sondern Buchstaben darstellten. Ungelenk war ein Name eingeritzt: Peter .
Das Hundegebell war verstummt. Matthias richtete den schmerzenden Rücken auf und spähte durch die Äste. Er kannte keinen Peter. Nur wenige Meter von ihm und der sterbenden Frau entfernt führte ein sauber geharkter Weg durch die Sträucher. Das war kein abgelegenes Waldstück, sondern ein öffentlicher Park. Jeden Moment konnte ein Spaziergänger hier entlangkommen
und die Bescherung entdecken. Hastig wischte Matthias das Messer an der zerfetzten Bluse der Frau ab und sah sich dann um. Achtlos hingeworfen lag sein Beutel etwa drei Meter entfernt hinter ihm zwischen zwei Haselnusssträuchern. Ein Zangengriff lugte aus der Öffnung.
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