Sensenmann
Semper unterdrückte ein wütendes Schnaufen. In ihrem rechten Knie glühte der Schmerz. An der Fleischtheke bediente nur eine einzige Verkäuferin, und die schien alle Zeit der Welt zu haben. Die zehn Minuten, die sie bereits hier anstand, kamen ihr vor wie eine Stunde. Die beiden alten Schachteln vor ihr hatten ewig gebraucht, um sich zu entscheiden. Jetzt war das Mädchen mit den Spaghettiträgern dran. Isolde Semper rückte auf und sah sich um. Im Supermarkt herrschte mittägliche Ruhe. Im rechten Gang wühlten zwei Teenager in den Sonderangeboten. An der
Käsetheke nebenan wartete ein etwa vierzigjähriger Mann darauf, dass ihn jemand bediente. Er schaute herüber. Seine Augen funkelten smaragdgrün. Hinter ihm stellte sich eine schlanke Frau mit blondem Pagenkopf an. Ihr Blick folgte dem des Mannes, ehe sie sich desinteressiert umdrehte. Die Käseverkäuferin kam aus einer Schwingtür und trocknete sich die Hände am Kittel ab. Isolde Semper vermeinte, ein kurzes Grinsen aufblitzen zu sehen, bevor der Mann den Blick von ihr abwandte. Es dauerte einen Moment, bis sie realisiert hatte, dass das »Und Sie bitte?« ihr galt. Die Bedienung lächelte beflissen und entblößte dabei schiefe Zähne. Das Spaghettiträgertop-Mädchen war bereits weg.
Sie las die Posten auf ihrem Zettel vor und nahm zusätzlich noch fünfzig Gramm Hackepeter für Minkus mit.
Auf dem Weg zu den Kassen machte Isolde Semper noch am Weinregal Halt und watschelte dann langsam in Richtung Ausgang. Sie hatte keine Ahnung, dass sie nicht mehr dazu kommen würde, die vier Flaschen Merlot zu leeren.
7
»Kommen Sie bitte rauf, zweiter Stock.«
Tom las den Text auf dem Schild und drückte gleichzeitig den Knauf. Leißmann GmbH – Baudienstleistungen, Schnell-sauberflexibel . Der Türöffner summte. Er nahm die Treppe, immer zwei Stufen auf einmal, und sah dabei Isabells festen kleinen Hintern vor sich. Seine Zungenspitze kam herausgekrochen und leckte die Oberlippe. Das kleine Luder würde ihm leider nicht ewig Freude bereiten. Als ihr Journalistikstudium abgelehnt worden war, hatte Isabell beschlossen, es erst einmal mit einem Praktikum bei einer Tageszeitung zu versuchen. Nach einer dreimonatigen Verlängerung endete dies nun in drei Wochen endgültig.
Tom war gewillt, die Galgenfrist weidlich auszunutzen. Die Kleine war ein scharfer Feger. Wenn sie weg war, herrschte wieder Ebbe auf dem Frischfleischmarkt. Bis zur nächsten.
Er war im zweiten Stock angekommen, sah sich um und kontrollierte dabei seine Atmung. Sie ging nur unmerklich schneller. Der gute Tom Fränkel war super in Form.
»Guten Morgen.« Die Glastür quietschte beim Schließen. Eine Sekretärin mit Vogelnestfrisur sah ihn über ihre Halbbrille hinweg an. »Sie sind der Herr von der Tagespresse ?«
»Genau. Tom Fränkel.« Er ging direkt auf die ältliche Frau zu, sein Herzensbrecherlächeln im Gesicht, und reichte ihr die Hand. »Ich hatte angerufen.«
»Sie wollten den Chef sprechen.« Das Vogelnest wippte. »Da haben Sie aber Glück, dass Herr Franz noch da ist!« Tom unterdrückte den aufwallenden Ärger. Er hatte sich doch nicht umsonst gestern noch angemeldet. Die Sekretärin beugte sich über die Wechselsprechanlage und flötete »Herr Fränkel von der Tagespresse für Sie« hinein. Ein metallicblau lackierter Fingernagel deutete nach links. »Gehen Sie rein.«
Die Kamera klickte wie ein mechanisches Modell. Es würde nicht mehr lange dauern, und von den in der DDR als moderne Architektur gerühmten Neubaublocks wäre nur noch ein grauer Bodensatz übrig. Metallenen Riesenkraken gleich hakelten Bagger in den Resten der Betonmauern herum. Schmutzfahnen wehten über das Trümmerfeld. Laster mit übergroßen Rädern kurvten beladen davon. Tom ignorierte die Verbotsschilder und marschierte auf das Gelände. Ein hünenhafter Gelbbehelmter eilte herbei und fuchtelte Abwehrbewegungen. In Rufweite begann er zu dröhnen: »Halt, Halt! Sie dürfen hier nicht rein! Das ist gefährlich!«
Das musste Fred Möllek sein. »Sie können ihn gar nicht verfehlen«, hatte der Chef der Abbruchfirma gesagt, »er ist der Einzige,
der zwei Meter groß ist.« Tom lächelte beschwichtigend und blieb stehen, bis der Bauarbeiter heran war.
»Guten Tag, Herr Möllek. Tom Fränkel von der Tagespresse .« Ein ehrlich aussehendes Lächeln, ein ausgestreckter Arm, die Handfläche leicht nach oben gekehrt. Es funktionierte. In Fred Mölleks Gesicht glätteten sich die Falten, er zog den
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