Sentry - Die Jack Schilt Saga: Die Abenteuer des Jack Schilt (German Edition)
schwere Atemzüge, die ich umgehend mit denen eines alten Mannes in Verbindung brachte. Zeitgleich kamen schlurfende Schritte auf mich zu, die unsicher und fragil wirkten, was meiner Annahme, dass es sich um ein betagtes Wesen handeln musste, neue Nahrung gab. Kurz darauf beugte sich langsam ein Gesicht über mich.
Entgegen aller Vermutungen blickte ich in ein relativ jugendliches Antlitz. Ein befremdliches Lächeln lag in den Zügen des jungen Mannes, der mir den Gefallen tat, neben die Pritsche zu treten. So musste ich ihn nicht mehr länger kopfüber betrachten.
Mit unverhohlener Neugier starrte ich den Ankömmling an. Einen Lidschlag später durchzuckte mich die beklemmende Erkenntnis, dieses Gesicht schon einmal gesehen zu haben.
Ich kannte diesen Menschen.
Wo waren wir uns schon begegnet? Nein, bestimmt nicht in Stoney Creek! Absurderweise überkam mich das Gefühl, diese Person zwar zu kennen, ihr aber noch nie über den Weg gelaufen zu sein.
Der junge Mann nickte ermutigend, als hörte er das sprichwörtliche Rattern hinter meiner Schädeldecke. Kannte er mich am Ende auch?
„Kennen wir uns?“ fragte ich argwöhnisch. Und noch während ich die Frage formulierte, fiel es mir ein. Ich musste eine spektakuläre Grimasse gezogen haben in dem Moment, als die Erkenntnis wie ein Blitzschlag traf. Fassungslos glotzte ich in das Gesicht, welches mich weiterhin unverblümt musterte. Wenn das kein billiger Scherz oder eine Halluzination war, war ich bereit zu glauben, endlich verrückt geworden zu sein.
Ja, es handelte sich um Annachie Brennain, daran gab es nicht den geringsten Zweifel. Sein Steckbrief war jahrelang am Anschlagbrett in der Kambera von Stoney Creek gehangen, Resultat eines verzweifelten Vaters, der das spurlose Verschwinden seines ältesten Sohnes nicht tatenlos hinnehmen wollte. Wie oft hatte ich das fein gezeichnete Antlitz des vermissten Jungen aus Cape Travis betrachtet und dabei über sein Schicksal nachsinniert. Doch war er nur einer von vielen gewesen, und Suchmeldungen weiterer Vermisster drängten seine Aktualität irgendwann in den Hintergrund.
Nun stand er vor mir.
Und verdammt lebendig dazu!
Irgendetwas an den Proportionen seines Körpers irritierte mich jedoch. Womöglich war es dieser zu groß geratene Kopf, der über einem spindeldürren Körper thronte. Seltsam, in meiner Vorstellung hatte ich ihn mir kräftiger, gesünder vorgestellt. Jetzt wirkte er wächsern, kränklich, geradezu zerbrechlich.
Sein schwarzes, sackähnliches Gewand, welches bis zu den nackten Füßen reichte, entblößte erbärmlich dünne Ärmchen, die nur aus Haut und Knochen bestanden. Aus welchen Gründen auch immer Brennain auf die Feuerinsel gelangt war, gut schien es ihm hier nicht ergangen zu sein.
Unfähig ein Wort von mir zu geben, beobachtete ich ihn reglos. Brennain verlagerte den Standort ein wenig, offenkundig um mir noch besseren Blick zu gewähren. Seine Bewegungen hatten etwas Holpriges an sich, liefen wenig koordiniert ab, als habe er gerade erst wieder angefangen, laufen zu lernen.
Während ich ihn anfangs nur überrascht ansah, verspürte ich alsbald merkwürdige Unruhe in mir aufkommen, deren Ursprung sich zunächst nicht deuten ließ. Brennain stand nun direkt neben mir und stierte mich von oben herab aus starren, merkwürdig ausdruckslosen Augen an. Ich starrte zurück, den Blick keine Sekunde senkend und fühlte mich dabei wehrloser und verwundbarer denn je. Das monotone Surren wog plötzlich tonnenschwer.
„Wer bist du?“ fragte ich, um das nervenzermürbende Schweigen endlich zu brechen.
Brennain zögerte die Antwort ein paar lange Sekunden hinaus. Dann öffneten sich seine dünnen, violettfarbenen Lippen.
„Du wirst mich kaum kennen, selbst wenn ich meinen Namen preisgäbe.“
„Oh doch, ich kenne dich, wir sind uns zwar nie begegnet, aber dein Bild ist mir bekannt. Du bist Annachie Brennain aus Cape Travis, habe ich Recht?“
Für einen kurzen Moment schlich sich so etwas wie Überraschung in das Antlitz Brennains.
„Ah, ich vergesse es immer wieder“, sagte er dann. „War das sein Name? Annachie Brennain? Das klingt irisch. Dabei sah er gar nicht irisch aus, oh nein.“
Irgendetwas an seiner Art zu reden machte mich stutzig... als spräche ich nicht das erste Mal mit ihm... – und was zum Teufel bedeutete „irisch“? Mir blieb jedoch keine Zeit, diesem Gedanken nachzuspüren, denn Brennain fuhr fort.
„Nein, mein Name ist nicht Annachie Brennain, wobei ich
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