Sephira - Ritter der Zeit 1: Die Bruderschaft der Schatten (German Edition)
übernehmen können. Dann wären vielleicht noch ein paar Menschen mehr am Leben.
Doch dann halte ich mir wieder vor Augen, dass sich das Schicksal der Menschheit nicht von einem einzelnen Menschen ändern lässt. Wenn dieser Einzelne als Spielfigur nicht zur Verfügung steht, greift es sich einen anderen. Außerdem gibt es schlimmere Flüche als die Unsterblichkeit, glaub mir.«
»Also hast du es nicht bereut.«
»Nein. Und vermutlich würde ich wieder so entscheiden. Allerdings hätte ich dir diese Entscheidung lieber erspart.«
»Warum denn?«
»Weil unsterblich zu sein auch bedeutet, nur unter seinesgleichen bleiben zu können. Jede Freundschaft, die man mit einem normalen Menschen schließt, ist zum Zerbrechen verurteilt, da dieser Mensch entweder stirbt oder man ihn verlassen muss, um zu verhindern, dass er hinter das Geheimnis kommt. Sieh dir Chaim an. Wir sind schon befreundet, seit ich hierhergekommen bin. Früher oder später werde ich aus seinem Leben verschwinden müssen. Ich weiß nicht, ob er sich bereits wundert, dass ich nicht altere. Aber irgendwann wird er es tun.«
»Aber würdest du ihn so ganz ohne Nachricht verlassen?«
»Das muss ich, wenn ich nicht will, dass eines Tages Sayd oder ein anderer vor seiner Tür steht und ihn tötet. Neben unseren Fähigkeiten als Kämpfer ist Stillschweigen eine der wichtigsten Grundlagen unserer Gemeinschaft. Wer gegen dieses Gebot verstößt, weiht all seine Brüder dem Tode.«
Gabriel machte eine kurze Gedankenpause, dann sah er mich an. »Der Grund, warum ich gestern Morgen nicht da war, ist der, dass ich Chaim bitten wollte, dich bei ihm unterzubringen. Er hätte dich aufgenommen.«
Ich schnaufte unwillig. »Und du hättest dich einfach aus dem Staub gemacht.«
»Ich habe Chaim erzählt, dass ich eine Reise machen werde, und ihm auch nicht widersprochen, als er vermutete, dass ich nach Jerusalem gehen würde. Früher oder später wird es dort zum Kampf kommen, und wenn ich mich nicht melde, würde Chaim glauben, dass ich gefallen sei. Nach einer Weile hätte er mich vergessen.«
»Glaubst du das etwa im Ernst?«, platzte ich heraus, denn ich hielt das, was Gabriel sagte, für Unsinn. »Kein Mensch, der dein wahrer Freund ist, wird dich vergessen!«
Ich nahm eine Handvoll Sand und presste ihn zusammen, als wollte ich aus ihm einen Stein formen.
Gabriel merkte, dass mich seine Worte aufregten, und legte beruhigend die Hand auf meinen Rücken. »Deine Leute waren sicher gute Menschen. Ich kann leider nur sagen, dass es mir leidtut. Lebendig werden sie davon nicht, aber …«
Ich nickte. Tränen, die in meine Augen schossen, machten es mir unmöglich, zu sprechen, aber ich dankte Gabriel im Stillen für das, was er gesagt hatte.
»Komm her«, sagte er schließlich und zog mich gegen seine Schulter. Wie damals auf dem Pferd stiegen mir nur der Gewürz- und Weihrauchduft in die Nase, nach Schweiß roch Gabriel nicht, obwohl auch er bei dem Übungskampf ins Schwitzen gekommen sein musste.
Ich hasste es, schwach zu sein, aber in diesem Augenblick überließ ich mich diesem Gefühl voll und ganz. Gabriels Nähe, die Erinnerungen und das erneute Bewusstwerden meines Verlustes raubten mir alle Kräfte.
So saßen wir eine ganze Weile nebeneinander, ohne dass er seine Position geändert hätte, weil ich ihm zu schwer oder meine Nähe unangenehm wurde. Ich weinte leise vor mich hin, ließ zu, dass die Bilder mich überwältigten, und spürte dann, als sie sich wieder zurückzogen, eine seltsame Befreiung.
12
A ls die Nacht über der Feste hereinbrach, preschte Sayd durch das große Tor und ritt sogleich hinauf zum inneren Ring. Dort sprang er aus dem Sattel und eilte an dem Feuer vorbei, das die Wachen entzündet hatten. Die Flammenzungen flackerten kurz unter dem Luftzug seines Mantels, dann war er auch schon verschwunden.
Im Festungsinneren wurde er von unstetem Fackellicht empfangen. Nachdem er ein paar Treppen erklommen hatte, erreichte er die Gemächer seines Gebieters. Malkuth schätzte den Prunk, und so schimmerten hier Gold, Messing und bunte Seide im Fackelschein.
»Ein Sturm zieht auf, Sayd«, sagte er, als er den Assassinen bemerkte. Sayd, der respektvoll an der Tür stehen geblieben war, wagte erst jetzt näher zu kommen. »In ein paar Tagen wird er hier sein, sodass wir wieder sämtliche Türen und Fenster schließen müssen.«
Was die Vorhersage des Wetters anging, irrte sich Malkuth nie, das wusste Sayd nur zu gut. Ihm selbst war es
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