Septemberblut
Begegnung mit ihm entgegenzufiebern, und das, obwohl sie pausenlos die Erinnerung an sein blutverschmiertes Gesicht heimsuchte. Sie rieb sich mit den Händen über die Stirn und drückte die Handgelenke auf die geschlossenen Augen, bis weiße und rote Punkte durch die Schwärze tanzten.
Er hat mein Blut getrunken, sagte sie sich immer wieder. Er ist ein Perverser, ein Kannibale. Und doch, er war etwas anderes als das, und Amber wusste es genau. War es vielleicht diese Mischung aus Raubtier und beinahe kindlichem Mann, die sie so über die Maßen faszinierte?
Kein Zweifel, Julius war gefährlich. Das Monster in ihm lebte dicht unter der Oberfläche und lechzte nach ihrem Blut. Sie konnte es fühlen. In seiner Gegenwart schrie jede Faser ihres Körpers von Gefahr, von Flucht. Doch etwas hinderte sie. Die Macht, die Wildtiere vor ihrem Häscher erstarren ließ – und noch mehr.
Der Ausdruck in Julius’ Bernsteinaugen war es, der sie wirklich an ihn denken ließ. Die Einsamkeit darin und die Verletzlichkeit.
Schon jetzt sehnte Amber den Abend herbei, wenn sie seine seidig kühle Haut streicheln und jede Berührung mit ihm dieses seltsam magische Gefühl auslösen würde, das sie Verstand und Vernunft vergessen ließ. Als habe man eine schnurrende Raubkatze zum Freund, wild, unberechenbar und berauschend wie ein Traum. Amber wusste, was passiert war.
Siehatte sich verliebt. So heftig, wie seit langem nicht mehr, oder eigentlich wie noch nie. Ihr Herz begann auf eine wunderbare Weise schneller zu klopfen, wenn sie an ihn dachte. Und sie dachte eigentlich ständig an Julius. Ob es ihm wohl gutging, da, wo er war?
Sie erinnerte sich an seinen Duft. Die herbe Schwere seines Parfums und darunter verborgen der erdige Herbstgeruch der Haut. Frisch wie das Versprechen von Schnee an einem kalten Wintertag.
Sie rief sich den Moment vor dem Restaurant ins Gedächtnis, als sie ihn durch das Taxifenster gesehen hatte. Schlank und groß und unbeweglich hatte er dort gestanden, in der Hand den Blumenstrauß. Er sah so verdammt gut aus! Und dann das erleichterte Lächeln, als sie ausstieg.
Plötzlich veränderte sich das Bild. Julius ließ die Rosen fallen und brach gleich darauf zusammen. Seine Haut floss, kochte schwarz.
Er schrie!
Das Messer manipulierte ihre Gedanken! Eine Stimme! Da war eine Stimme! Vernichte ihn, du weißt, wo er sich versteckt. Er schläft, jetzt ist es einfach, tu es, sofort! Vernichte den Dämon, vernichte ihn, vernichte ihn!
Amber stießt die Waffe mit einem Aufschrei von sich. Das Messer polterte auf den verblichenen Holzboden der Terrasse und schien sie von dort aus anzustarren. Dieses Ding, Frederiks Erbe, hatte sie zur Mörderin werden lassen, und es wollte, dass sie es wieder tat!
Doch Amber war weder bereit fortzuführen, was anscheinend das Leben ihres Bruders bestimmt hatte, noch willens, sich für eine unheimliche Waffe in Lebensgefahr zu begeben. Sie starrte krampfhaft in die sacht schwingenden Wedel einer Bananenstaude, bis die schrecklichen Bilder vergingen.
Obwohl die Sonne unvermindert vom Himmel brannte, warAmber plötzlich kalt. Sie rieb sich über die schweißfeuchten Arme und fühlte, wie ihr die Kälte in die Knochen kroch.
Das Messer lag noch immer auf dem Boden. Sie brauchte einen Moment, um sich zu überwinden, dann beugte sie sich vor und hob es auf. Sie erwartete die unheimliche Stimme wieder zu hören, doch diesmal blieb die Waffe stumm.
Die Klinge war fast schwarz und die Maserung so fein, dass sie kaum mit bloßem Auge zu erkennen war. Silberne Muster wanden sich um den Griff und verstärkten den Rücken der Klinge. Der Griff war hohl und ließ sich mit etwas Mühe aufschrauben. Er enthielt Stückchen von mindestens drei verschiedenen Knochen, menschliche Haare, Holz, Silber und Gold, davon allerdings so wenig, dass es kaum von Wert war, sowie ein dünnes Pergamentröllchen, das wahrscheinlich mit einem lateinischen Gebet beschrieben war.
Amber drehte das Messer nachdenklich in der Hand und ließ die Sonne daraufscheinen. Das Ding war der Grund dafür, dass Frederik sich so verändert hatte. Ob er in den vergangenen Jahren überhaupt noch einen klaren Gedanken hatte fassen können? Wie viel von Frederik war überhaupt noch er gewesen? Seine Hände waren wahrscheinlich genauso an der Waffe festgeklebt wie ihre, als sie in der vergangenen Nacht den jungen Mann ermordet hatte.
War »ermorden« das richtige Wort, wenn es sich um einen Untoten handelte?
Untot, mein
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