Septimus Heap 01 - Magyk
nicht hinaufklettern. Das Loch, das ihn verschluckt hatte, war zu weit oben. Widerstrebend sah er ein, dass ihm nur eine Möglichkeit blieb: Er musste dem Tunnel folgen und darauf hoffen, dass er zu einem anderen Ausgang führte.
Und so machte er sich, den Ring vor sich hinhaltend, auf den Weg. Es ging gleichmäßig bergab. Der Tunnel wand sich um viele Kurven, bog mal in die eine, mal in die andere Richtung ab, führte in Sackgassen und bisweilen auch im Kreis, bis Junge 412 jede Orientierung verloren hatte und sich schwindlig fühlte. Es war, als hätte der Erbauer des Tunnels alles darauf angelegt, ihn zu verwirren.
Und das, so glaubte Junge 412, war auch der Grund, warum er die Treppe hinunterfiel.
Am Fuß der Treppe schnaufte er erst einmal durch. Gebrochen hatte er sich auch diesmal anscheinend nichts. Er war nicht tief gefallen. Aber etwas fehlte – sein Ring war fort. Zum ersten Mal, seit er in dem Tunnel war, bekam er Angst. Der Ring hatte ihm nicht nur Licht gespendet, sondern auch Gesellschaft geleistet. Und er hatte ihn gewärmt, wie ihm jetzt klar wurde, denn plötzlich zitterte er wieder vor Kälte. Mit weit aufgerissenen Augen spähte er in die pechschwarze Nacht und hielt verzweifelt nach dem goldenen Glimmen Ausschau.
Nichts.
Er sah nichts außer Schwarz. Er fühlte sich verlassen. So verlassen, wie er sich damals gefühlt hatte, als sein bester Freund, Junge 409, bei einer nächtlichen Kaperfahrt über Bord gefallen war und sie nicht hatten anhalten dürfen, um ihn aus dem Wasser zu ziehen. Junge 412 schlug die Hände vors Gesicht. Am liebsten hätte er aufgegeben.
Dann hörte er den Gesang.
Eine wunderschöne Stimme, sanft und zart, drang an sein Ohr und rief ihn zu sich. Auf alle vieren, da er nicht noch einmal eine Treppe hinunterfallen wollte, kroch er in die Richtung, aus der die Stimme kam. Zentimeter um Zentimeter tastete er sich über den kalten Marmor, und je näher er dem Gesang kam, desto sanfter und weniger eindringlich wurde er. Auf einmal klang er merkwürdig gedämpft, und Junge 412 merkte, dass seine Hand auf dem Drachenring lag.
Er hatte ihn gefunden. Oder besser gesagt, der Ring hatte ihn gefunden. Mit einem glücklichen Lächeln steckte er sich den Ring wieder an den Finger, und die Dunkelheit rings um ihn schwand.
Der Rest war ein Kinderspiel. Der Ring wies ihm den Weg. Der Tunnel war breiter geworden, führte geradeaus und hatte nun weiße Marmorwände, die hunderte einfache Gemälde in leuchtenden Blau-, Gelb- und Rottönen schmückten. Doch dafür hatte er jetzt keine Augen. Er wollte nur noch eins: den Ausgang finden. Und so ging er weiter, bis er fand, was er suchte, nämlich eine Treppe, die nach oben führte. Mit einem Gefühl der Erleichterung erklomm er die Stufen. Dahinter ging es eine steile sandige Schräge hinauf, die bald in einer Sackgasse endete.
Im Lichtschein des Rings sah er schließlich den Ausgang. Eine alte Leiter lehnte an der Wand, und über ihr war eine hölzerne Falltür. Er stieg die Sprossen hinauf und drückte gegen die Falltür. Er atmete auf, sie gab nach. Er drückte etwas stärker. Die Falltür öffnete sich, und er spähte durch den Spalt. Draußen war es dunkel, aber eine Veränderung in der Luft verriet ihm, dass er nun über der Erde war, und während er wartete und sich zu orientieren versuchte, gewahrte er einen schmalen Lichtstreifen auf dem Boden. Er seufzte erleichtert. Er wusste, wo er war. Er war in Tante Zeldas Schrank für Unbeständige Tränke und Spezialgifte. Lautlos hievte er sich nach oben, klappte die Falltür zu und legte den Teppich, der sie verdeckt hatte, wieder darüber. Dann öffnete er vorsichtig die Schranktür und spähte hinaus. Die Luft war rein.
Tante Zelda stand in der Küche und braute gerade einen neuen Trank. Als er an der Tür vorbeischlich, schaute sie kurz auf, schien aber so in ihre Arbeit vertieft, dass sie nichts sagte. Er huschte weiter zum Kamin. Mit einem Mal fühlte er sich todmüde. Er zog den Drachenring vom Finger und steckte ihn in die Tasche, die er an der Innenseite seines roten Huts entdeckt hatte. Dann sank er neben Berta auf den Teppich vor dem Kamin und schlief ein.
Er schlief so tief, dass er nicht hörte, wie Marcia herunterkam und Tante Zeldas größtem und wackligstem Bücherstapel befahl, sich in die Luft zu erheben. Weder hörte er das Säuseln, mit dem ein großes und sehr altes Buch mit dem Titel Wie man die dunklen Kräfte unschädlich macht unter dem schwankenden Turm
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