Septimus Heap 05 - Syren
Lebzeiten hatte er wahrlich genug Schildkröten gesehen. Er mochte ihr spitzes kleines Maul nicht, und allein die Berührung ihres Panzers machte ihn ganz kribbelig. Aber wenn sein Meister darauf bestand, dass er eine Riesenschildkröte wurde, dann wurde er eben eine Riesenschildkröte. Was ihn freilich nicht davon abhielt, mit ihm zu handeln.
»Ich tue es nur zehn Minuten, nicht länger, oh Müdemachender«, sagte der Dschinn.
»Du tust es so lange, wie ich es dir sage«, entgegnete sein Meister.
»Nicht länger als zehn Minuten, ich flehe dich an, oh Unbarmherziger«, bettelte Jim Knee.
»Du tust es so lange, wie es nötig ist, um uns sicher an Land zu bringen. Und du wirst dich in eine so große Schildkröte verwandeln, dass wir alle auf einmal draufpassen.«
»Ihr alle?« Jim Knee ließ bestürzt den Blick über die Versammelten schweifen. Er musste eine wahrhaft große Schildkröte werden.
»Ja. Beeil dich.«
»Na schön, oh Mitleidloser«, sagte Jim Knee traurig. Es war kein gutes Zeichen, dass er sich beim allerersten Wunsch seines neuen Meisters in das Tier verwandeln musste, das er am meisten verabscheute – in eine Schildkröte. Er würde so lange, wie es sein Meister wünschte, in einem Panzer gefangen sein und vier labberige Flossen statt Hände und Füße haben – das war sein schlimmster Albtraum. Der Dschinn nahm einen tiefen Atemzug – für wie lange sollte es der letzte sein, der nicht nach Schildkrötenspucke schmeckte? Dann kletterte er auf das Schandeck, sprang von der Cerys, platschte ins klare Wasser und tauchte einen Augenblick später als Riesenschildkröte mit gelben Augen wieder auf.
Nicko stand mit einem Tau bereit. Er machte es an einer Klampe fest und warf es über Bord.
Die Schildkröte brachte ihre Passagiere wie befohlen zu den Felsen ganz am Ende der Landzunge gegenüber der Sterninsel, wo sie von der Cerys aus nicht gesehen werden konnten. Die Felsen waren nicht leicht zu umschwimmen, und nachdem die Schildkröte die Breite ihres Panzers unterschätzt hatte, brachte sie es tatsächlich fertig, zwischen zweien stecken zu bleiben. Zum Glück für die Passagiere war das Wasser an der Stelle schon so flach, dass sie absteigen und an Land waten konnten. Die Schildkröte saß fest – da half alles Drücken und Schieben nichts – und musste auf ihre Befreiung warten, bis ihr erlaubt wurde, sich wieder zurückzuverwandeln.
Jim Knee fand sich mit dem Gesicht nach unten in knietiefem Wasser liegend. Er sprang auf, hustete und prustete, watete an den felsigen Strand und setzte sich in einiger Entfernung von den anderen zum Trocknen in die Sonne. Sein Hut, da war er sich sicher, würde nicht mehr derselbe sein.
Auch seine Ex-Passagiere mussten sich von der Überfahrt erholen. Die Schildkröte war nicht sehr rücksichtsvoll gewesen. Sie war etwa zwanzig Zentimeter unter der Wasseroberfläche geschwommen, und so zappelig, als hätte sie es darauf abgesehen, die Mitreisenden auf ihrem Rücken abzuschütteln.
»Nicko«, sagte Milo, als er die Ärmel seines Nachthemdes ausgewrungen hatte, »ich muss mich bei dir entschuldigen.«
»Ach?« Nicko klang überrascht.
»Ich hätte dir nicht die Schuld daran geben dürfen, dass die Cerys auf Grund gelaufen ist. Ich glaube, dass die Insel verwunschen ist. Ich glaube, dass dich eine Sirene gerufen hat.«
Septimus sah Milo plötzlich mit neuen Augen. Vielleicht war er doch nicht der gefühllose Trottel, für den er ihn gehalten hatte.
Beetle warf Septimus mit hochgezogenen Augenbrauen einen Blick zu.
»Danke, Milo, aber das ist keine Entschuldigung«, sagte Nicko. »Ich hatte die Befehlsgewalt über das Schiff. Ich war dafür verantwortlich, was mit ihm geschah. Ich bin es, der sich entschuldigen muss.«
»Ich nehme deine Entschuldigung an, Nicko, aber nur, wenn du meine annimmst.«
Nicko wirkte wie von einer schweren Last befreit. Er lächelte zum ersten Mal, seit die Cerys auf Grund gelaufen war. »Vielen Dank, Milo, ich nehme sie an.«
»Fein!« Milo sprang auf. »Und jetzt muss ich wissen, was auf der Cerys vorgeht. Ich schätze, von den Felsen da drüben dürfte man einen guten Blick haben, meinst du nicht, Nicko?«
Allem Anschein nach wollten alle einen Blick auf die Cerys werfen – alle bis auf Jim Knee, den Septimus fast vergessen hatte, ehe er von Beetle an ihn erinnert wurde. Er musste sich erst noch daran gewöhnen, dass er einen Dschinn hatte. Der Dschinn erinnerte ihn an Maxie, Silas Heaps altersschwachen Wolfshund, den
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