Septimus Heap - Fyre
Seite, damit sie nicht von ihr passiert wurden. Veilchenblaue Geisteraugen folgten der Nachfahrin, als die sich der vereisten Stelle in der Mitte des Platzes näherte. Dort angekommen, blieb sie zitternd stehen, sah sich noch einmal um und durchmaß dann die wenigen Meter bis zu den Zinnen. Sie beugte sich über den Rand der Mauer und spähte nach unten, um sich zu vergewissern, dass sie an der richtigen Stelle war – nur für alle Fälle. Ungefähr zwei Meter unter ihr war eine goldene Scheibe in die Mauer eingesetzt. Jenna richtete sich wieder auf und seufzte. Sie war hier richtig – natürlich. Die Menge der königlichen Geister teilte sich, als sie zu der vereisten Stelle zurückkehrte, sich hinsetzte und ihre pelzgefütterten Winterstiefel aufschnürte.
Hoch oben in einem der Häuser, die hier den Mauerweg säumten, hatte Jenna einen weiteren Zuschauer – einen kleinen Jungen. Er hatte die Prinzessin von einem Dachfenster aus erspäht. Und nicht zum ersten Mal. Bald erhielt er Gesellschaft von seiner Mutter und seiner Großmutter. Die Nasen an die Scheibe gedrückt, beobachteten die drei, wie die Prinzessin ihre Stiefel und ihre lila Wollstrümpfe auszog und sich dann barfuß auf das Eis stellte.
»Seht ihr«, flüsterte der kleine Junge, »sie tut es schon wieder.«
»Herrje«, flüsterte die Mutter. »Hoffentlich wird sie nicht genauso verrückt wie diese Datchet.«
»Pst«, zischte die Großmutter. »Sonst hört sie dich noch.«
»Ausgeschlossen«, erwiderte die Mutter.
Aber der unter den anderen Geistern auf der Mauer weilende Geist von Königin Datchet III. hörte sie tatsächlich. Denn es ist eine Tatsache, dass Menschen, die zu ihren Lebzeiten nicht ganz richtig im Kopf gewesen sind, als Geister die erstaunliche Fähigkeit entwickeln, über viele Meilen hinweg zu hören, wenn jemand ihren Namen ausspricht. Aber Jenna hörte nichts – weder die Bemerkung der Mutter in der Dachkammer noch das Geräusch, auf das sie so sehnsüchtig wartete, den langsamen, aber gleichmäßigen Herzschlag des Drachenboots, der – Bubumm, Bubumm, Bubumm – bis vor wenigen Tagen immer durch den Fels bis zu ihren Fußsohlen pulsiert war. Jenna wollte das unverwechselbare Pochen unbedingt spüren. Sie stellte sich das Drachenboot vor, wie es, eingeschlossen in sein Haus aus Lapislazuli, unter dem Mauerweg lag. Sie dachte an das letzte Mal, als sie es gesehen hatte. Vor ihrem inneren Auge sah sie noch den großen grünen Drachenkopf, der auf dem Marmorweg ruhte, der an den beiden Seiten des tonnenförmigen Drachenhauses entlangführte, und den dicken Drachenschwanz, der, zusammenrollt wie ein dickes grünes Tau, auf dem Marmorsims an der hinteren Wand lag. Jenna erinnerte sich, wie vollkommen das Boot ausgesehen hatte – von Jannit Maarten so wunderbar repariert –, aber auch, wie schlaff und leblos die Drachin gewesen war.
Und dann fiel ihr ein, dass sie von Tante Zelda noch immer nicht die Tripel-Schalen für die Dreifachtransformation bekommen hatte, ohne die sie den Wiederbeleber Tx3, den ihr Broda Pye vor so langer Zeit gegeben hatte, nicht anwenden konnte. Ein Gefühl der Verzweiflung überkam sie, doch sie schob es beiseite, atmete tief durch und zwang sich, an gar nichts zu denken – nur daran, was sie unter ihren Fußsohlen spürte. So stand sie da, wie versteinert, still in sich versunken, doch auch diesmal spürte sie nichts. Gar nichts.
Oben in der Dachkammer verstummten die drei Zuschauer. Die Großmutter wusste, worauf die Prinzessin wartete. Da sie über dem Drachenhaus wohnte, dachte sie oft an den schönen Drachen, der dort unten lag, und besonders an langen, kalten Winterabenden fragte sie sich, ob das Geschöpf wohl noch am Leben war. Es war dieselbe Frage, die sich Jenna nun stellte.
Jenna bekam vom Eis taube Füße, aber sie hoffte immer noch auf ein leises Bubumm. Plötzlich blies ein Windstoß Schnee von den Zinnen, und eisige Flocken legten sich auf ihre blau angelaufenen Zehen. Da merkte Jenna, dass sie kein Gefühl mehr in den Füßen hatte. Es bestand keine Hoffnung mehr, dass sie jetzt noch etwas erspürte. Der Wind – oder etwas anderes – trieb ihr Tränen in die Augen. Sie setzte sich hin und zog die Wollstrümpfe und die braunen Lederstiefel wieder an. Dann stand sie auf, verharrte einen Augenblick unschlüssig und ging dann, beobachtet von der Familie und den Geistern von fünfundvierzig Königinnen, Prinzessinnen und Prinzessinnen im Wartstand, auf ihrer eigenen Spur durch den
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