Sex and Crime auf Königsthronen
versuchten Hochverrats, was mit seinen Augen betrachtet keine völlig aus der Luft gegriffene Anklage ist.
Der 23-jährige Don Carlos stirbt 1568 im Kerker. Ein finaler Fressanfall soll seinem Tod vorausgegangen sein. Papa Philipps niederländischen Feinde – allen voran Propagandaexperte Wilhelm von Oranien – bringen per Flugblatt ihre Wahrheit über die Ereignisse unters Volk. Und per Brief an alle befreundeten Monarchen: Der väterliche und landesväterliche Tyrann Philipp hat seinen edlen Sohn ermordet!
Was viele Zeitgenossen glauben – und was mehr als 200 Jahre später noch Friedrich Schiller glaubt. Der 1759 geborene Dramatiker notiert in seinen Briefen über Don Karlos: »Die schönsten Träume von Freiheit werden im Kerker geträumt.«
Und viele nachtschwarze in den realen Palästen. Don Carlos sollte nicht der letzte Kronprinz Spaniens sein, der mit Gendefekten zu kämpfen hatte und seine Umgebung in Angst versetzte.
Wahnsinn hat Methode – Spaniens letzter Habsburger
Mit einem nur noch bedauernswerten Marionettenkönig stirbt am 1. November 1700 die spanische Linie der Habsburger-Dynastie aus.
Es ist Don Carlos’ Namensvetter König Karl II. von Spanien (1661–1700). Der besseren Unterscheidbarkeit wegen wird er im Folgenden Karl genannt, obwohl er im Spanischen natürlich auch Carlos heißt.
Seine Untertanen kennen ihn zu Lebzeiten vor allem als El Hechizado , der Verhexte.
Karl II. vereinigt auf sich typische Habsburger-Merkmale in grotesker Überformung. Der Infant wird mit einem viel zu großen, hohen und verformten Schädel geboren. Vermutlich leidet er zusätzlich unter Hydrocephalie (»Wasserkopf«). Typisch ist auch eine enorm vorspringende Kinnpartie.
Der Unterkiefer ragt so weit vor bei dem Jungen, dass er seinen Mund ein Leben lang nicht schließen kann. Er leidet unter einem umgekehrten Überbiss der unteren Zahnpartie, die in der Medizin als Progenie bezeichnet wird. Rassereine Bulldoggen und Boxer erben diese Behinderung häufig. Dem König wird lebenslang ein Speicheltuchhalter zur Seite stehen; er kann kaum schlucken und kauen. Eine übergroße Zunge und die typischen wulstigen Lippen der Familie verschlimmern das Übel. Hinzu kommen Wachstumsstörungen.
Trotz schmeichelhaftester Pinselführung werden die Hofmaler der physischen Benachteiligungen des letzten spanischen Habsburgers nicht mehr Herr. Wer einige Jugendporträts des Infanten betrachtet, den packt leicht Mitgefühl. Im verhangenen Blick des Infanten selbst ist eine tiefe Schwermut unverkennbar. Ob nun geistig zurückgeblieben oder nicht, der junge Karl leidet an sich und an seiner eng begrenzten Welt im Palast.
Der Thronfolger – ein kostbares Einzelkind – wird über seine ganze Kindheit hinweg nicht gefördert und nicht gefordert. Seine Erziehung ist eine Mischung aus strikter Überbehütung und unguter Dressur. Man entwöhnt das missgestaltete, geistig behinderte Kind mit fünf oder sieben Jahren. Mit vier lernt »der Verhexte« lallend zu sprechen, mit acht Jahren laufen. Freie Bewegung erlaubt man ihm nur selten. Spaniens letzter Habsburger wird im Palast mehr oder minder versteckt, nicht unterrichtet, sondern auf Benimm getrimmt. Zumindest die spanische Hofetikette soll Karl beherrschen. Sein Land und seine Kolonien werden schon seit Jahrzehnten von Adelsfamilien regiert, einer zwielichtigen Hofkamarilla und Ministern. Bei allem Zank, den sie untereinander pflegen, gilt ihre größte Sorge dem Erhalt einer Dynastie, die sich recht kommod lenken lässt. Sprich: Die nächste Kronprinzengeneration muss in Produktion gehen, ganz egal, was dabei herauskommt.
Man legt dem bedauernswerten Karl nach seinem offiziellen Amtsantritt mit achtzehn Jahren nach Adelssitte eine nicht minder bedauernswerte gleichaltrige Nichte des französischen Sonnenkönigs ins Bett. Ihr Name ist Maria Louisa von Orléans. Das Ganze ist mal wieder eine politische Schachpartie mit royalem Genmaterial. Spanien will durch die Heirat einen drohenden militärischen Übergriff des mächtigen Sonnenkönigs vermeiden. Außerdem könnte das französische Blut das der spanischen Habsburger erbtechnisch aufpeppen und einen repräsentablen männlichen Thronfolger hervorbringen, der ein bisschen Recht auf Frankreich hat.
Frankreichs Ludwig XIV. hingegen will durch Maria Louisa dynastisch-genetische Spuren in Madrid hinterlassen, um eventuell einmal Thronansprüche im Namen seiner Dynastie zu stellen. Wer weiß, ob die Blutsbande am Ende nicht
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