Sex und Folter in der Kirche
hinab, versetze mich, so gut es gelingen will, in die Seele der Täter und sage mir: Mit einer etwas anderen Gehirn- und Gefühlsstruktur, mit anderen Lebenser-fahrungen, mit wirklicher Macht in Kopf und Hand könnte ich
vermutlich ähnlich gehandelt haben.114
Dabei habe ich nicht die Phantasie, mir die Hölle im Jenseits schlimmer vorzustellen als die vielen Höllen in uns und um uns.
Peter Weiss, im Gespräch über Dante (1965): »Ich entnehme der Divina Commedia nur das, was sich in ein irdisches Dasein verset-zen läßt. Es besteht bei mir auch nicht ahnungsweise eine Vorstellung von Hölle und Fegefeuer, von einem Paradies ganz zu schweigen. Ich bin auch nicht durch die berühmten Krisen gegangen, in denen die Frage gestellt wird, ob es nicht doch besser sei, an einen Gott und an ein Fortbestehen der Seele zu glauben. Ich rechne nicht damit, daß nach dem Tod noch irgendwelche Wanderungen bevor-stehn. Es genügt, was hier auf der Erde von mir gefordert wird, und meine größte Anstrengung reicht kaum dazu aus, mir einige Bruchteile davon klarzumachen.«115
Georg Christoph Lichtenberg sah tief in unsere Herzen hinein:
»Wir fressen einander nicht, wir schlachten uns bloß.«116 Und eine Gesellschaft, die selbst heute Schlachthäuser und Schlachtfelder verkraftet, braucht sich nicht um ihre Zukunft zu sorgen: Sie ist selber schlachtreif. Doch, nochmals, immer wieder: Was unser
Zusammenleben ermöglicht, ist weder der Glaube noch die Ver-
nunft, weder Macht noch Geld, nicht einmal die Dummheit. Was
alles Menschliche bemäntelt und einfach unantastbar macht, ist
»die Verbindung von grenzenloser Gleichgültigkeit und nicht minder grenzenloser Heuchelei«117. Sie ist spezifisch für die menschliche Art. Ich denunziere nicht, doch bitte ich, den Satz des Laotse (viertes oder drittes Jahrhundert v. Chr.) zu beachten: Wahre Worte sind nicht angenehm, und angenehme Worte sind nicht
wahr.
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Glänzende Oberfläche
Ich lasse einen jeden nach seiner Natur leben, und
wer will, mag für sein Heil sterben, wenn nur ich
für die Wahrheit leben darf.
Baruch Spinoza
Die christliche Kirche treibt nicht nur die
Gläubigen in die Gräben und segnet die
Maschinen, die zum Mord bestimmt sind - sie heilt
auch die Wunden, die der Mord geschlagen hat,
und ist allemal dabei.
Kurt Tucholsky
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Die Kommentare, die Stellung nehmen zu den alltäglich ins Haus gelieferten Schreckensmeldungen und -Bildern, haben zur Zeit allen Grund, sich zu überschlagen: Jugoslawien, ein geeint, gesichert geglaubtes europäisches Land, in dem bis in die letzten Jahre hinein halb Europa Urlaub machte, zerfleischt sich Tag um Tag, zerlegt sich selbst in seine Bestandteile, zerstört sich vor den Augen derer, die neulich an die Adria fuhren, legt einen für unglaublich gehaltenen Blutdurst bloß. Wie konnte dies geschehen? Die Antworten
fallen unterschiedlich aus. Ich zitiere in diesem Zusammenhang das Wort eines französischen Moralisten aus dem achtzehnten Jahrhundert, Antoine de Rivarols: »Die zivilisierten Völker sind für das Gift der Barbarei so anfällig wie das blanke Eisen für den Rost.
Völker und Stahl, beide glänzen nur an der Oberfläche.«1
Es besteht kein Grund zur Annahme, der Satz sei nur für die
Vergangenheit gültig. Das blanke Gegenteil ist wahr: Er gilt für die Gegenwart und, nach allem, was bereits erahnt werden kann, auch für die Zukunft. Ich wundere mich, wie viele ansonsten ernstzunehmende Zeitgenossen sich darüber wundern, daß weder Krieg noch Folter außer Übung kamen. Waren sie der Meinung, Folter und
Kriege ließen sich einfach für überholt erklären oder durch Dekret abschaffen? An Ächtungen fehlt es gewiß nicht; keine Regierung dieser Welt läßt eine Gelegenheit aus zu betonen, wie fern ihr Kriege und Folterungen stehen. Die Zahlen und Fakten bezeugen unangefochten das Gegenteil. Gewiß ist die Folter überall beseitigt,2 zumindest als Teil des strafrechtlichen Verfahrens.3 Manche Länder können stolz auf hundert, hundertfünfzig, zweihundert Jahre zu-rückblicken, da sie auf ihrem Territorium offiziell »abgeschafft«
wurde.. .4
Unsinn, von einem bloßen Wiederaufleben der Folter vor etwa
hundert Jahren zu sprechen. Dummheit, die Fundamente der
menschlichen und religiösen Gewaltbereitschaft nicht zu ergründen, sondern anzunehmen, Menschen, Staaten, Kirchen5 hätten hin und wieder für ein paar Jahrzehnte ihrer Historie andere Interessen als in den vielen tausend Jahren zuvor
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