Seziert: Das Leben von Otto Prokop (German Edition)
Weinbergschnecken in den Wäldern und Rieselfeldern um Berlin. Als er einen dieser Extrakte aus den Schnecken testete, fand er zu seinem Erstaunen nicht eine Blutgruppensubstanz, sondern genau das Gegenteil, nämlich eine Substanz, die ausschließlich rote Blutkörperchen der Blutgruppe A verklumpte. Ein Telegramm an mich signalisierte die Sensation: Echter Antikörper gegen A bei Schnecken gefunden!
Am liebsten hätte ich zurücktelegrafiert: Echter Irrtum, es muss ein Lektin sein! Denn eines wusste ich als Immunologe: Antikörper gibt’s nur im Immunsystem der Vertebraten. Ich machte den Prokopschen Versuch mit einer Kölner Schnecke nach. Tatsächlich reagierten nur menschliche Zellen der Blutgruppe A und natürlich AB . Diese Blutgruppe ist charakterisiert durch ein Kohlenhydrat, genannt N-Acetyl-Galaktosamin. Wenn die Anti-A-Eigenschaft des Schnecken-Extrakts auf einem Anti-spezifischen Lektin beruhen würde, dann müssten alle Zellen, die diesen »Zucker« haben, aber keine Blutgruppen-Eigenschaft A besitzen, auch mit dem Extrakt reagieren.
Dazu boten sich ganz bestimmte Bakterien an, aber auch synthetisch hergestellte Moleküle. Die reagierten prompt mit dem Schnecken-Anti-A. Dies war nun aber weder ein Antikörper noch ein Blutgruppen-A-Reagenz, sondern ein Lektin. Ich schlug daher vor, diese Gruppe der Invertebraten-Lektine, die wir dann auch bei anderen Invertebraten fanden, Protektine zu nennen. Damit stellte ich Prokop zufrieden, dem es schwerfiel, seine geliebte Theorie vom Blutgruppensystem Marke Antikörper aufzugeben, vor allem, weil er auch noch glaubte, Blutgruppe-B-Substanz in der gleichen Schnecke gefunden zu haben, Anti-A bei B-Personen wie beim Menschen.
Das schriftliche Hauptwerk der gemeinsamen Arbeiten von Professor Uhlenbruck und Professor Prokop wurde ins Englische übersetzt und wohlwollend wahrgenommen. Der Kalte Krieg war in vollem Gange, doch die beiden Forscher ließen sich von ihrer Zusammenarbeit nicht abbringen.
Auch die Liebe zu einer Theorie kann blind machen, ich selbst nehme mich da nicht aus. Ich habe dann selbst nach der B-Substanz in Schnecken gefahndet, fand aber nur Galaktane. Die haben zwar den Kohlenhydrat-Anteil Galaktose, der für B spezifisch ist, aber keine Blutgruppen-Aktivität. Galaktane haben mir aber dann geholfen, Anti-Galaktose-Lektine zu entdecken, zum Beispiel die Gruppe der Tridacnine.
Irrtümer haben ein sehr kreatives Potenzial, wenn man darangeht, zu beweisen, dass es Irrtümer sind. Dennoch: Als Wissenschaftler war Otto Prokop Vorbild für mich, und wir ergänzten uns prima. Er war der Serologe mit den klinischen Aspekten, ich der Immunologe mit den biochemischen Interpretationen.
Wann war das?
Das war Mitte und Ende der 60er Jahre. Der Sport spielte auch eine Rolle bei der Blutgruppenforschung. Prokop interessierte es, ob AA -Menschen mehr Blutgruppensubstanz haben als A 0 -Menschen (beide sind Blutgruppe A). Und ich zeigte ihm, dass sportlich trainierte Menschen beider Gruppen die höchste Zahl an diesen Molekülen aufweisen, denn eben alles wird hochreguliert an Rezeptoren, um die Zelle der Leistungsanforderung anzupassen.
Allerdings gilt auch: Je mehr Zell-Outfit oder Rezeptoren-Rokoko, umso besser die Andockmöglichkeiten für Bakterien und Viren. Sie können dann durch ein »Open Window« leicht andocken und sich vermehren.
Umgekehrt gilt: Das Sterben beziehungsweise Altwerden einer Zelle zeigt sich an der »Down-Regulation« von Rezeptoren, das genügt oft nicht mehr zum Haften der Erreger. Denn: »Bacteria non agunt, nisi fixata« [Ausspruch von Paul Ehrlich: »Was nicht haftet, kann nicht wirken«].
Um an den Beginn zu erinnern: Das Grippe-Virus kann beim Leistungssportler viel besser haften und sich vermehren. Prokop sah immer über den Tellerrand hinaus: Er war es auch, der solche Lektine dann erfolgreich als Tumormarker zum Beispiel bei Brustkrebs einsetzte, etwa das Schnecken-Anti-A-Lektin.
Wie kam er auf die Idee mit den Schnecken?
Es war wirklich Zufall, hinter dem aber ein ganz anderes, etwas kompliziertes Konzept stand, das heißt: Was er suchte, fand er nicht, aber er fand etwas, das er nicht gesucht hatte.
Also Neugier.
Es war Neugierde dabei, aber er suchte auch immer die Bestätigung seiner Theorien und Hypothesen. Ich sehe das so: Der harte, oft grausame Job des Gerichtsmediziners einerseits, andererseits die Sehnsucht nach den schönen Denkgebäuden wissenschaftlicher Theorien und biologischen Systemen, die ihn
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