Seziert: Das Leben von Otto Prokop (German Edition)
eines Erhängten.
Nach etwa eineinhalb Stunden der Vorlesung war es uns dann »vorbehalten«, in seine Obduktionsräume zu gehen, wo wir nicht wussten, welche Form einer Leiche uns erwartete beziehungsweise wie intensiv wir uns diese unter seiner Regie anschauen durften.
Er begann in seinem Dialekt mit den Worten, sinngemäß: »So, meine Herren, jetzt gehen wir mal nach unten und schauen nach, was wir gerade reinbekommen haben.« So hatte ich die Ehre, zum damaligen Zeitpunkt schon die ganze Breite von nichtnatürlichen Todesfällen kennenlernen zu dürfen: Wasserleichen, Verbrannte, Mordopfer und so weiter.
Für den Fall, dass jemand von uns »abklappte«, standen auch immer seine Kollegen bereit, die den ein oder anderen von uns schon mal auffangen durften. Mir ist das zum Glück nicht passiert. Ich stand einmal allerdings kurz davor, als er uns die Leber eines Alkoholikers »offerierte« und auch noch zudrückte, so dass ich, in der ersten Reihe stehend, den »angenehmen Duft« wahrnehmen durfte. Das war’s dann fast für mich gewesen …
Kurz noch zu den Prüfungen bei Professor Prokop: Diese fanden zum Abschluss des zweiten Studienjahres statt. Es war eine sogenannte Gruppenprüfung mit zwei bis drei Studenten. Dort durfte sich jeder Student ein Lieblingsthema aussuchen. Ich hatte mich auf Ertrinken vorbereitet und ihm das auch so kommuniziert, woraufhin ich ihm aber den Aufbau einer Lunge erklären sollte. Das war natürlich nicht so geplant. Ich habe es aber einigermaßen hinbekommen.
Er prüfte auch besonders das Allgemeinwissen auf naturwissenschaftlichem Gebiet, wo dann Fragen vorkamen wie die Funktionsweise eines Kühlschranks oder wie eine Lampe funktioniert, sprich, wie kommt das Licht da raus, das Entstehen von Braunkohle und anderes.
Die Prüfung fand in seiner Bibliothek – sehr interessant übrigens – statt, und ich habe diese mit der Note 2 bestanden. Ich bin ehrlich, mit der Notenverteilung war er sehr lieb zu uns, er sagte immer, er weiß, dass er hier keine Rechtsmediziner beziehungsweise Mediziner ausbildet, sondern Kriminalisten.
Wir müssen nur wissen, was im sogenannten ersten Angriff am Tatort passiert, um dann die nachfolgenden Maßnahmen koordinieren zu können, also auch den Einsatz von Spezialisten.
Zu seinem 60. Geburtstag wurde 1981 ein Symposium veranstaltet. Es fand in seinem Institut und auch in der Charité statt. Es ging über mehrere Tage, und wir mussten alle antreten und den Vorlesungsraum »füllen«. Dort hörten wir uns wissenschaftliche Vorträge von den verschiedensten Spezialisten der Gerichtsmedizin an. Sie kamen aus vielen Ländern, unter anderem Japan, der damaligen Sowjetunion, Frankreich und so weiter. Du kannst dir sicherlich vorstellen, wie viel ich und auch andere Studenten davon verstanden, denn diese Vorträge wurden in den jeweiligen Landessprachen gehalten (auch auf Japanisch) und nur teilweise übersetzt.
Ich weiß nicht, ob er überhaupt wusste, dass wir alle dort hinbestellt worden waren und »aufmerksam« seinen und andere Vorträge anhören durften. Es schien ihm aber zu gefallen, und da er uns sympathisch war, haben wir das auch mit einigen Abstrichen gern getan.
Interessant war vor allem, wer dort alles vertreten war – aus wirklich vielen Staaten. Er muss international anerkannt und »begehrt« gewesen sein. Mal sehen, wie viele Menschen zu meinem 60. Geburtstag kommen und ob auch ein Symposium veranstaltet wird …
Mir fällt noch ein, dass Prokop uns öfter »Episoden« aus Wien erzählt hat. Dabei schweifte er in seiner Vorlesung ab und beschrieb uns in Wien die schönsten Dinge, wohl wissend, dass wir dort nicht hinkamen – Westreisen waren für uns fast utopisch. Manchmal bekam er, so glaube ich, nicht so richtig mit, vor welchem Publikum er stand.
Er sagte zum Beispiel: »Wenn Sie nach Wien reinkommen und zum Café XY gehen möchten, dann nehmen Sie die erste Querstraße rechts und dann die Soundso-Straße geradeaus, dann sind Sie dort.« So in etwa lief das dann ab, wenn er uns irgendetwas in Wien beschrieb und davon ausging, wir könnten uns das jederzeit anschauen beziehungsweise dorthin reisen.
Wenn ich mich recht erinnere, erzählte er mitunter, dass sein Bruder in Österreich auch als Mediziner tätig sei, und einige Episoden aus seiner in Österreich lebenden Familie.
Nun zu meinem jetzigen Beruf.
Im Jahr 1993 wurde ich seitens einer Präventionsbehörde des Landes Brandenburg gefragt, ob ich mir vorstellen könnte,
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