SGK330 - Tanzplatz der Verfluchten
den
Kopf. Es fiel ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Der Alkohol
verfehlte nicht seine Wirkung. Man sah ihr kaum etwas an, als sie durch den
Flur ging, um ihre unterbrochene Hausarbeit wieder fortzusetzen. Sie musste den Vorhang noch flicken, der eine Nische verdeckte,
in der sie Reinigungsmittel und Hausgeräte aufbewahrte.
Da vorn stand noch der Schemel. Sie
setzte sich wieder darauf und blickte zum anderen Ende des Flurs. Die Wand war
etwa sechs Meter von ihr entfernt. Und dort hatte sie vorhin die Gestalt erblickt.
Jetzt war wieder alles normal.
Hätte sie auch darüber sprechen
sollen?
Um ihre Mundwinkel zuckte es, und die
faltigen Lippen waren fest zusammengepresst .
Was vorhin geschehen war, hatte sie
zum ersten Mal erlebt. Und es hatte sie entsetzt.
Sie sah eine Gestalt. Dunkel,
schemenhaft . .. Fing so das Delirium tremens an? Wundern würde es sie nicht,
es war doch ganz beachtlich, was sie tagsüber schluckte.
Während sie den Riss in dem dicken Vorhang flickte, gingen ihre Blicke immer wieder vor zum anderen
Ende des Flurs, der im Halbdunkel lag.
Automatisch griff sie hin und wieder
auch hinter den Vorhang und zog die Schnapsflasche hervor, die dort deponiert
war.
Wieder nahm sie einen herzhaften
Schluck.
Da war es ihr, als bewege sich etwas
in ihrer Blickrichtung. Eine schattenhafte Gestalt!
Anna Kaichen schluckte. Die Situation
war so gespenstisch, so unheimlich, dass sie
grauenvoll stöhnte.
Da war es wieder!
Die Gestalt war etwa eins
fünfundsiebzig groß. Anna Kaichen konnte das deshalb so gut abschätzen, weil
direkt daneben die Tür ins Wohnzimmer führte.
Die Konturen der Erscheinung waren
anfangs nebelhaft verschwommen, wurden dann klarer. Es war der Körper eines
Mannes, vollkommen schwarz, als wäre er in eine nachtschwarze Haut gehüllt.
Anna Kaichens Lippen zitterten.
Nadel und Zwirn entfielen den Händen
der Frau. Sie setzte noch mal die Flasche an und nahm einen Schluck, ohne mit
der Wimper zu zucken.
»Geh weg !« stieß sie hervor. Mit der Flasche in der Hand erhob sie sich und ging auf die
Gestalt zu, die auf halbem Weg stehengeblieben war.
»Ich will dich hier nicht... dich gibt
es nicht .. ., du bist nur
eine Einbildung, eine Halluzination ...«
Ihre Augen waren vor Schreck geweitet.
Heiße und kalte Schauer durchrieselten sie.
Sie lief an der Wand entlang und warf
ruckartig die Flasche nach der Gestalt, die begonnen hatte, sich weiter zu
festigen, als würde sie Mühe haben, sich langsam aus dem Nichts
herauszuschälen.
Die Schnapsflasche traf die
unheimliche Erscheinung.
Wäre sie immateriell gewesen, hätte
die Flasche sie passieren müssen.
Sie war aber materiell!
Die schwarze Gestalt war nicht nur ein
Phantom - sie war körperlich!
Da gab Anna Kaichen einen spitzen
Schrei von sich, lief an dem unheimlichen Besucher vorbei ins Wohnzimmer und
schlug mit lautem Krach die Tür hinter sich zu.
Sie nahm sich nicht die Zeit, über das
Erlebnis nachzudenken. Sie lief zum Telefon, wählte die Nummer ihrer Freundin.
Doch niemand meldete sich. Da begannen ihre Hände wieder zu zittern, und
Schweiß perlte auf ihrem grauen Gesicht.
Anna Kaichen drückte die Gabel
herunter und wählte eine neue Nummer. Diese Bekannte musste zu Hause sein. Aber auch da meldete sich niemand.
Da sah sie den Zettel neben dem
Telefonapparat. Die Nummer des Hotels, in dem Morna Ulbrandson untergebracht war,
stand darauf.
In ihrer Angst und Verzweiflung, den
Verstand zu verlieren, wenn sie noch länger allein in der Wohnung war, wählte
Anna Kaichen diese Nummer.
Der Empfang meldete sich.
»Ich möchte Frau Ulbrandson sprechen«,
stieß sie hervor. »Schnell..., es eilt...« Man hörte ihrer Stimme an, dass sie getrunken hatte.
»Einen Moment bitte«, klang es
förmlich zurück.
Fünf Sekunden verstrichen, zehn ...
Anna Kaichen kamen sie vor wie eine Ewigkeit.
»So beeilen Sie sich doch, schnell !«
Sie musste mit jemand sprechen. Morna Ulbrandson hatte sie gebeten, wieder anzurufen. Das
tat sie jetzt.
Anna Kaichen konnte ihren Blick nicht
von der Tür wenden. Die Frau stand unter einer ungeheuren inneren Anspannung,
hatte das Gefühl, ihr Herz würde von einer –gewaltigen Faust zusammengepresst , meinte, die Tür würde jeden Augenblick
aufgehen und dann würde die unheimliche Gestalt eintreten und sich auf sie
stürzen.
Die Vorstellung wurde so lebhaft, dass sie anfing, leise zu wimmern.
»Frau Ulbrandson ist nicht da«, wurde
ihr höflich geantwortet.
»Nicht...
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