Shakespeares ruhelose Welt
Route des königlichen Einzugs in die Stadt, 1604 (die gelb gepunktete Linie mit Ziffern steht für die sieben Bögen).
Kapitel Neunzehn
Theater der Grausamkeit
Augenreliquie des seligen Edward Oldcorne
«Auftritt König Heinrich, der eine Supplik liest … in der Entfernung Königin Margareta, die über Suffolks Kopf trauert.»
«Es kommen Rebellen zurück mit den Köpfen des Lord Say und seines Schwiegersohnes.»
«Iden tritt auf mit Cades Kopf.»
«Richard wirft Somersets Kopf hin.»
«Ratcliff und Lovel treten auf mit Hastings Kopf.»
«Der Bastard tritt auf mit Österreichs Kopf.»
«Macduff kommt mit Macbeths Kopf.»
«Guiderius kommt, mit Clotens Kopf.»
«Er haut Titus’ Hand ab.»
D ie grausigsten Zeilen in Shakespeares Stücken stehen häufig nicht im Text, sondern in den Bühnenanweisungen. Immer wieder, vor allem in den Historien, kommen die Köpfe der Hauptfiguren ohne deren Körper auf die Bühne zurück. Der Preis für politische Niederlagen – in manchen Fällen auch nur für Schwäche – war dann ein entsetzlicherTod. Das, in einem ganz realen Sinn, ist der Schauplatz, das Theater öffentlicher Grausamkeit; geregelt durch haarsträubende Regieanweisungen: Demetrius und Chiron kommen mit der geschändeten Lavinia; ihr sind die Hände abgehauen und die Zunge ausgeschnitten . Manchmal auch ins Groteske gehend: Ein Bote kommt [mit zwei Häuptern und einer Hand ] – beide Stellen aus Titus Andronicus.
Nach unseren Maßstäben gehen solche Dinge entschieden zu weit, gehören jedenfalls nicht in normale Unterhaltungsprogramme. Doch in Londoner Theatern und ihren Nachmittagsvorstellungen um 1600 waren Verstümmelung, das Abtrennen von Gliedern und Exekutionen gang und gäbe. In Shakespeares Welt war das Abschlachten von Menschen Teil des Lebens. Wer über die London Bridge schlenderte, um sich im Globe oder im Rose ein Stück anzuschauen, den konnte dieser Weg an den Spießen vorbeiführen, auf denen Köpfe von Verrätern steckten. Die Hinrichtung von Verbrechern war, wenn schon keine öffentliche Vergnügung, dann jedenfalls öffentliches Spektakel. Man konnte frühmorgens nach Tyburn gehen, um einer Hinrichtung durch den Strang beizuwohnen, dann, nach dem Mittagessen, ins Theater wandern und zuschauen, wie Macbeth den Kopf verliert oder der Graf von Gloucester beide Augen. Das Leiden von Verbrechern oder Verrätern dem Volk vorzuführen, war ein wesentliches Element des Gerichtswesens, und nicht anders als das Theater zogen auch Hinrichtungen ein großes, aus allen Schichten gemischtes Publikum an.
Zu der Sammlung historischer Artefakte und Quellen, die im Stonyhurst College, der Jesuitenschule in Lancashire, aufbewahrt werden, gehört eine kleine runde Dose, beschriftet mit vier kurzen lateinischen Zeilen. Nimmt man sie in die Hand und dreht sie um, sieht man ein kleines Fenster, gestaltet wie die Öffnung eines Auges; der durchbrochene Deckel ist aus Silber, und dessen Gravuren bilden Wimpern und Falten nach. Durch das Glas sieht man einen kleinen bräunlichen Klumpen, einer getrockneten Pflaume nicht unähnlich. Tatsächlich ist das ein menschliches Auge, genauer, wie die Inschrift enthüllt, «oculus dexter», das rechte Auge des Jesuiten Edward Oldcorne. Diese Silberdose ist die Reliquie eines katholischen Märtyrers aus England.
Jan Graffius, Kurator der Stonyhurst-Sammlung, erläutert den Hintergrund:
«Edward Oldcorne war ein Missionspriester aus dem späten sechzehnten und frühen siebzehnten Jahrhundert. Er wirkte erfolgreich im Stillen, konnte sich rund siebzehn Jahre unentdeckt unter den Katholiken von Worcestershire bewegen. Er war eine sehr sanftmütige Person, hatte aber das Pech, nach dem Gunpowder Plot verhaftet zu werden – obwohl er überhaupt nichts damit zu tun hatte. Weil er in einem sehr sicheren Haus lebte, kamen andere Jesuiten, nach denen eifrig gefahndet wurde, zu ihm, um Schutz zu suchen, und so wurden sie alle zusammen gefangen genommen. Und obwohl Pater Oldcorne absolut nichts wusste und in die Verschwörung nicht verwickelt war, wurde er als katholischer Priester und Jesuit, was selbst schon als Verbrechen galt, gefoltert und anschließend gehängt, ertränkt und gevierteilt.
Der Gunpowder Plot von 1605, bei dem es Guy Fawkes fast gelungen wäre, König Jakob I. in den Houses of Parliament in die Luft zu sprengen, erschütterte die öffentliche Meinung ganz ähnlich wie die Zerstörung der Twin Towers die moderne Welt. Sofort wurde die Verschwörung als
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