Shakran
Das leere Holster an ihrem Rockgürtel sagte ihm, wer sie war. Ihre Augen waren geschwollen, das Make-up war verlaufen, sie hatte geweint, aber es war ihr Gesichtsausdruck, der Mark am tiefsten berührte. Irgendwann während der Folter hatte sie eine innere Stärke gefunden.
Er folgte dem Blick ihrer Augen und entdeckte ihre Finger. Sie lagen aufgereiht auf Senator Malverns Schreibtisch. Dahinter die Augen des Kaplans. Und zwei blutige Teile. Die Kniescheiben. Mark schluckte. Übelkeit überfiel ihn, und er wich zurück zur Tür. Er hatte schon viel gesehen in seinem Leben, aber immer wieder gab es Dinge, vor denen selbst der dickste Panzer nicht schützen konnte.
16
A ndrea Weston sieht aus wie ein Model, dachte Ann, als sie sich im Spiegel musterte. Lange blonde Haare, ein lockerer, lässiger Schnitt, dem man ansah, dass er in einem exklusiven Salon mehrere Stunden Arbeit und ein paar Hundert Dollar gekostet hatte. Als Andrea Weston mochte Ann intensive Farben und modisches Flair. Das Kostüm, das sie trug, war extravagant und sexy. Ann Mankowitz war schüchtern, Andrea Weston war das genaue Gegenteil.
Die Augenbrauen waren dunkel, sie ähnelte ein wenig Brooke Shields. Wenn man sie so ansah, dachte man: jung, dynamisch, erfolgreich, vermögend. Wenn Ann raten müsste, welchen Job Andrea hätte, würde sie die Frau im Spiegel für jemanden aus einer Werbeagentur halten.
Ann war immer wieder überrascht, wie leicht es ihr fiel, die Identität zu wechseln. Aber wenn sie sich im Spiegel ansah, dann hatte sie keine Schwierigkeiten, sich zu erkennen. Schließlich wusste sie, wer sie war.
Sie zog den Lippenstift nach, sah sich kritisch an, nickte sich im Spiegel zu und verließ den Waschraum.
Das Bistro lag auf der westlichen Seite des historischen Rathausplatzes von Villiamsburg. Vor ihr erstreckte sich die Rasenfläche in der Mitte des Platzes, darauf die Flaggenmasten und die Kanone aus dem Bürgerkrieg, die genau auf das Rathaus zielte. Vor zwei Jahren hatte einer ihrer Schüler wissen wollen, ob die Kanone geladen war, und eine brennende Wunderkerze in das Zündloch gehalten. Danach war an einer Stelle der Fassade der Putz erneuert worden. Die ganze Stadt hatte sich darüber amüsiert und sich gefragt, welchen Grund es wohl dafür gab, dass eine geladene Kanone seit über hundert Jahren auf das Fenster des Bürgermeisters zielte.
Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. Erinnerungen und kleine Geschichten wie diese waren der Grund, warum sie sich als Ann so wohlgefühlt hatte.
Während sie zurück zu ihrem Tisch ging, merkte sie, wie die Blicke der Männer ihr folgen. Ann hatte das nie bemerkt.
Andrea hingegen wusste, dass sie attraktiv war. Sie beherrschte diesen sexy Hüftschwung, und sie flirtete gern.
Ann war eine graue Maus, Andrea war ein Schmetterling. Und irgendwo dazwischen versteckte sich ihr wahres Ich. Nur finden konnte sie es nicht. Sie hatte sich entschlossen, ihrem unbekannten Selbst den Namen Juliet zu geben. Das lag an einer anderen Erinnerung. Oder vielleicht an einem anderen Traum.
Sie war ungefähr sieben Jahre alt und wohnte in einem großen Haus, in dem viele Leute arbeiteten. An jenem Morgen wurde sie in einem großen schwarzen Wagen zur Schule gefahren. Die Kinder dort sprachen französisch. Sie konnte es nicht so gut, aber sie verstand genug, um herauszuhören, dass eine Mitschülerin sie beleidigte. Sie wehrte sich, indem sie das Mädchen fest an den Haaren zog.
Der Mann, der sie morgens immer zur Schule brachte, war nett. Er sprach englisch und hatte einen Knopf im Ohr. Wenn er losfuhr, nahm er ein Mikrofon und sprach hinein, während er sie anlächelte. »Habe Juliet Kilo Charlie an Bord. Bin auf dem Weg.«
Wenn sie nicht bei Maman war, dann passten die Männer und Frauen in den dunklen Anzügen auf sie auf. Maman nannte sie ma chère, Papa nannte sie Poppet, die netten Leute, die auf sie aufpassten, nannten sie Juliet Kilo Charlie. Oder nur Juliet. Sie verbrachte mehr Zeit mit diesen Leuten als mit Maman. Maman hatte immer viel zu tun, auch Papa war nur selten zu Hause. Juliet konnte sich in dem großen Haus frei bewegen, nur in den Keller durfte sie nicht ...
Andrea gab Zucker in ihren Cappuccino und lächelte. Juliet war glücklich gewesen, damals. Sie hatte keine Probleme gekannt, keine Sorgen. Sie hatte eine Menge Fragen gehabt, und es waren meist die Männer in den dunklen Anzügen gewesen, die sie ihr beantwortet hatten.
Wenn ich heute das alles wüsste,
Weitere Kostenlose Bücher