Shannara VII
funktioniert.«
»Das tut es auch nicht«, gab Bremen zu. Er rückte näher ans Feuer und streckte die Hände nach der Wärme aus. Die Nacht war kühl, selbst unterhalb der Berge. »Wenn die Toten erscheinen, bieten sie Visionen an, die an ihrer Stelle sprechen. Die Toten haben keine Stimmen. Nicht die aus der Unterwelt. Nicht, solange…«
Er hielt inne und dachte über das nach, was er gerade sagen wollte. Ungeduldig winkte er ab. »Es bleibt die Tatsache, daß die Visionen dem, was die Geister sagen wollen, eine Stimme verleihen - wenn sie überhaupt etwas mitteilen wollen. Manchmal erscheinen sie nicht einmal. Aber wir müssen zu ihnen gehen und sie um ihre Hilfe bitten.«
»Das habt Ihr schon einmal getan«, sagte Mareth so plötzlich und klar, daß es nicht mehr wie eine Vermutung, sondern wie eine Feststellung klang.
»Ja«, gab der alte Mann zu.
Ja, dachte Kinson Ravenlock und erinnerte sich. Denn er war dabeigewesen. Eine schreckliche Nacht, voll grollender schwarzer Wolken und Strömen von Regen, voller Dampf, der aus der Oberfläche des Sees emporgezischt war, und voller Stimmen, die von den unterirdischen Kammern des Totenhauses heraufgerufen hatten. Kinson hatte am Rand des Tals von Shale gestanden und zugesehen, wie Bremen ans Ufer getreten war und die Geister der Toten zusammen mit einem Wetter erschienen waren, das für ihren schaurigen Zweck wie gemacht schien. Die Visionen hatte er nicht sehen können. Aber Bremen hatte sie gesehen, und sie waren nicht gut gewesen. Zumindest soviel hatte die Miene des alten Mannes enthüllt, als er schließlich im Morgengrauen wieder aus dem Tal emporgeklettert war.
»Es wird nichts geschehen«, versuchte Bremen ihnen zu versichern; ein schwaches und müdes Lächeln erschien in den Falten seines düsteren Gesichts.
Als sie sich zum Schlafen niederlegten, ging Kinson zu Mareth und beugte sich zu ihr hinunter. »Hier«, sagte er und bot ihr seine Reisedecke an. »Sie wird die nächtliche Kälte fernhalten.«
Sie sah ihn nervös an und schüttelte den Kopf. »Ihr braucht sie so sehr wie ich, Grenzländer. Ich möchte nicht anders als die anderen behandelt werden.«
Kinson hielt ihrem Blick einen Moment stand, ohne zu sprechen. »Mein Name ist Kinson Ravenlock«, sagte er dann ruhig.
Sie nickte. »Ich kenne Euren Namen.«
»Ich halte die erste Wache und brauche dafür weder das Gewicht noch die Wärme der Decke. Ich behandle Euch also nicht anders als die anderen.«
Sie war verwirrt. »Ich muß auch Wache halten«, sagte sie beharrlich.
»Das werdet Ihr. Morgen. Jede Nacht wechseln sich zwei von uns ab.« Noch hatte er seine Beherrschung gut unter Kontrolle. »Werdet Ihr jetzt die Decke nehmen?«
Sie warf ihm einen kühlen Blick zu, dann willigte sie ein. »Danke«, sagte sie mit betont gleichgültiger Stimme.
Er nickte und stand auf. So schnell, dachte er, würde er ihr nicht wieder etwas anbieten.
Die Nacht war vollkommen still und von atemberaubender Schönheit. Der seltsam lilagefärbte Himmel war mit dicken Sternen und einem silbernen Viertelmond gespickt. Es fehlte jede Wolke oder eine andere Lichtquelle, und der Himmel wirkte so ungeheuerlich und unendlich, als hätte ihn jemand mit einem Besen leer gefegt und dann die Sterne wie Diamantensplitter über seine samtene Oberfläche verteilt. Tausende waren zu sehen, so viele an so vielen Orten, daß es aussah, als liefen sie wie vergossene Milch zusammen. Kinson blickte zu ihnen auf und staunte. Die Zeit verstrich gleichmäßig. Kinson bemühte sich, den vertrauten Geräuschen des Waldlebens zu lauschen, aber es war, als wären sämtliche Bewohner des Waldes vor Ehrfurcht erstarrt und hätten keine Zeit für die Verfolgung gewöhnlicher Ziele.
Er dachte an die Zeit zurück, da er als Junge in der Wildnis des Grenzlandes nordöstlich von Varfleet im Schatten der Drachenzähne gelebt hatte. Damals war es nicht viel anders gewesen.
Nachts, wenn seine Eltern und seine Brüder geschlafen hatten, hatte er oft wachgelegen und in den Himmel hinaufgestarrt, über dessen Größe gestaunt und an all die vielen Orte gedacht, die er überspannte - Orte, die er, Kinson, noch niemals gesehen hatte. Manchmal war er dann ans Schlafzimmerfenster getreten, als könnte er beim Näherkommen mehr von dem erkennen, was ihn draußen erwartete. Er hatte immer gewußt, daß er fortgehen würde, selbst als die anderen begonnen hatten, sich auf ein seßhafteres Leben vorzubereiten. Sie waren herangewachsen, hatten Familien
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