Shannara VIII
Möglichkeit zur Gegenwehr blind in ihr Verhängnis liefen, die von falschen Worten und Vertrauen heischenden Blicken eines Politikers betrogen worden waren. Er wusste nicht, wie er das zustande gebracht hatte. Und er hatte keine Ahnung, wie er diese Gefühle überlebte, die er empfand. Jedes Mal, wenn die Hand des Morgawrs feucht und triefend von menschlichem Leben hervorkam, wäre der Verteidigungsminister am liebsten schreiend in die Nacht hinausgerannt. Dennoch war die Gegenwart des Todes so überwältigend, dass sie alles andere in diesen schrecklichen Stunden überstieg und ihn paralysierte. Während der Morgawr seinen Festschmaus abhielt, schaute Sen Dunsidan ihm zu und konnte nicht einmal den Blick abwenden.
Bis der Morgawr schließlich gesättigt war. »Genug für den Augenblick«, zischte er, überfressen und trunken von gestohlenem Leben. »Morgen Nacht werden wir die Sache zu Ende bringen, Minister.«
Er erhob sich, ging davon und nahm seine Toten mit sich in die Nacht, wie Schatten im Wind.
Die Dämmerung kroch herauf, der Tag brach an, aber Sen Dunsidan bekam davon nichts mit. Er verkroch sich tief in sich selbst und wollte nicht mehr hervorkommen. In seinem Zimmer lag er und versuchte, das Bild der triefenden Hand aus seinem Kopf zu vertreiben. Er döste und wollte vergessen, wie seine Haut bei dem Klang der leisesten menschlichen Stimme kribbelte. Man erkundigte sich nach seiner Gesundheit. Seine Anwesenheit im Ratssaal wurde gewünscht. Die Abstimmung über den neuen Premierminister stand bevor. Man erwartete Bestätigung von ihm. Sen Dunsidan kümmerte das alles nicht mehr. Er wünschte nur noch, dass er sich niemals in diese Position und diese Lage gebracht hätte. Er wünschte sich den Tod herbei.
Bei Einbruch der Nacht starb der Schließer. Trotz allem, was er im Leben durchgemacht hatte, konnte er das, was er mit angesehen hatte, nicht ertragen. Er suchte sich eine leere Zelle in den Tiefen des Kerkers und erhängte sich dort.
Oder war das er gewesen? Dessen war sich Sen Dunsidan nicht sicher. Vielleicht sollte der Mord nur wie ein Selbstmord aussehen. Möglicherweise wollte der Morgawr den Schließer nicht am Leben lassen.
Ob Sen Dunsidan der Nächste war?
Nur wie konnte er sich retten?
Um Mitternacht erschien der Morgawr wieder, und wieder ging Sen Dunsidan mit ihm zum Kerker. Diesmal ließ Dunsidan den neuen Schließer gehen und übernahm dessen Arbeit, die ihm fremd war, persönlich. Inzwischen war er abgestumpft, hatte sich an die Schreie gewöhnt, an die feuchte, dampfende Hand, an das entsetzte Grunzen der Männer, an die befriedigten Seufzer des Morgawrs. Längst nahm er innerlich nicht mehr Teil daran, war anderswo, irgendwo weit fort, so dass ihm das, was hier geschah, an diesem finstren Ort, nichts ausmachte. Am Morgen würde es vorüber sein, und danach wäre Sen Dunsidan ein anderer Mann in einem anderen Leben. Er würde diese Geschichte überstehen und hinter sich zurücklassen, einen Neuanfang wagen. Indem er sich von den Freveltaten und von den Grausamkeiten reinigte, würde er sich neu erschaffen. So machten es Soldaten, wenn sie aus dem Krieg heimkehrten. Auf diese Weise ertrugen Menschen das Unverzeihliche.
Über zweihundertfünfzig Männer gingen durch diesen Raum und verloren ihr bisheriges Leben. Sie verschwanden, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Der Morgawr verwandelte sie in tote Leiber, die noch gehen konnten, in Kreaturen, die alles Bewusstsein ihrer selbst und ihres eigenen Willens verloren hatten. Er machte sie zu etwas, das nicht einmal an einen Hund heranreichte, und sie begriffen es noch nicht einmal. Auf diese Weise heuerte er seine Luftschiffmannschaften an, und er nahm sie für immer mit sich. Alle, bis zum letzten Mann. Sen Dunsidan sollte keinen von ihnen jemals wieder sehen.
Innerhalb weniger Tage hatte er die Luftschiffe beisammen, die der Morgawr verlangt hatte, und damit war auch seine Seite des Handels erfüllt. Nach insgesamt einer Woche war der Morgawr aus seinem Leben verschwunden und hatte sich auf die Suche nach der Ilse-Hexe gemacht, um sich an ihr zu rächen. Sen Dunsidan war das gleichgültig. Er hoffte nur, sie würden sich gegenseitig umbringen. Und er betete dafür, dass er keinem der zwei je wieder begegnen würde.
Doch die Bilder blieben, quälend und erschütternd. Er konnte sie nicht aus seinem Kopf verbannen. Auch ihr Grauen konnte er nicht mildern. Sie suchten ihn im Schlaf heim oder auch, wenn er
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