Shardik
Oberschenkels. Ein Vorderzahn fehlte ihm, und als er seine eintönigen, ausdruckslosen Angebote und Bitten lispelte, floß ihm ein vom Betelkauen rötlich gefärbter Speichel über Unterlippe und Kinn. Er hatte einen ausweichenden, wachsamen Blick und hielt seinen rechten Arm leicht abgebogen, mit offener Hand und klauenartigen Daumen und Fingern an seiner Seite.
Plötzlich machte Elleroth einen Schritt vorwärts, faßte mit der Hand das Kinn des Jungen und zog dessen Gesicht nach oben, um ihm in die Augen zu sehen. Der Junge stieß einen schrillen Schrei aus und versuchte, sich loszumachen; seine ausgestoßenen Worte wurden nun durch Elleroths Griff an sein Kinn verzerrt.
»Armer Junge, Herr, nichts Böses, der Herr wird einem armen Jungen nicht weh tun, keine Arbeit, sehr harte Zeiten, stehe zu Diensten – «
»Wie lange führst du schon dieses Leben?« fragte Elleroth streng.
Der Junge stotterte mit abgewandtem Blick.
»Weiß nicht, Herr, vier Jahre, fünf Jahre, nichts Böses getan, Herr, vielleicht sechs Jahre, was immer Ihr sagt, Herr – «
Elleroth zog mit seiner freien Hand den Ärmel des Jungen nach oben. Um den Unterarm war ein breites Lederband gewunden, und darunter steckte ein schönes Messer mit Silbergriff. Elleroth zog es heraus und reichte es Mollo.
»Du hast nicht gemerkt, wie er es herauszog, wie? Das ist der Nachteil, wenn man sein Messer in einer Scheide an der Hüfte trägt. Nun hör auf zu heulen, mein Junge, sonst lasse ich dich von dem Marktwächter geißeln – «
»Ich lasse ihn geißeln, ob er heult oder nicht«, unterbrach Mollo. »Ich – «
»Einen Augenblick, mein Lieber.« Elleroth hielt das Kinn des Jungen noch immer fest, drehte dessen Kopf zur Seite und schob mit der freien Hand das schmutzige Haar zurück. Das Ohrläppchen war durchbohrt, das Loch hatte die Größe eines Orangenkerns. Elleroth berührte es mit dem Finger, und der Junge begann still zu weinen.
»Genshed u arkonlaut tha?« fragte Elleroth auf Terekenalt, einer Mollo unbekannten Sprache.
Den Jungen hinderten seine Tränen – er konnte nicht antworten und nickte nur jämmerlich.
»Genshed varon, shu varon il pekeronta?« Der Junge nickte wieder.
»Hör zu«, sagte Elleroth wieder auf beklanisch. »Ich werde dir etwas Geld geben. Dabei werde ich fluchen und vorgeben, dich zu schlagen, sonst kommen hundert andere arme Teufel aus allen Löchern des Marktes. Sag nichts, steck es ein und verschwinde, verstanden? Hol dich der Geier!« schrie er, faßte den Jungen an der Schulter und stieß ihn fort. »Haut ab, packt euch! Dreckige Bettler – « Er wandte sich um und ging mit Mollo seines Wegs.
»Also, was zum Henker – « begann Mollo. Er brach ab. »Was ist denn los, Elleroth? Du wirst doch sicher nicht – nicht weinen, oder?«
»Mein lieber Mollo, du merkst doch nicht einmal, wenn ein Messer aus der Scheide an deiner Hüfte verschwindet, wie willst du da genau den Ausdruck auf einem so verrückten Gesicht wie dem meinen deuten? Laß uns irgendwo einkehren und etwas trinken – ich könnte einen Schluck gebrauchen, das spüre ich, und die Sonne wird jetzt wärmer. Es wird angenehm sein, sich hinzusetzen.«
25. Der »Grüne Hain«
Die nächste Kneipe in der Kolonnade, deren Schild die Aufschrift »Der Grüne Hain« trug, war zwar windgeschützt, wurde aber dennoch zu Jahresbeginn durch ein Kohlenbecken geheizt, das tief genug stand, um zu verhindern, daß man von der Zugluft am Boden kalte Füße bekam. Die Tische waren noch feucht vom morgendlichen Abschrubben, und über die dem Platz zugewandte Sitzbank waren bunte Teppiche gelegt, die einigermaßen abgenutzt, aber sauber und gut gebürstet waren. Das Lokal schien hauptsächlich von besser gestellten Männern besucht zu werden, die auf dem Markt arbeiteten oder handelten – Einkäufer, Hausverwalter, Karawanenführer, Kaufleute und einige Marktbeamte mit ihren grünen Uniformmänteln und runden Lederhüten. An den Wänden hingen Kürbisse und getrocknete Tendrionas in Netzen, und es standen Teller mit eingelegten Eierfrüchten, Käse, Nüssen und Rosinen bereit. Durch eine Tür in der Hinterwand sah man auf einen Hof mit weißen Tauben und einem Brunnen. Elleroth und Mollo nahmen auf dem einen Ende der Sitzbank Platz und warteten geduldig.
»Nun, Gevatter Tod, komm nicht gerade jetzt daher«, rief ein langhaariger junger Karawanenführer. Er warf seinen Mantel zurück, um seinen Arm beim Trinken freizumachen, und blickte über seine
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