Shardik
gestützt. Die Mädchen sammelten sich um sie und warteten darauf, daß sie etwas sagen würde, doch sie schwieg. Die Schatten bewegten sich vor ihren Augen über den Boden, und die Fliegen setzten sich an ihre Mundwinkel. Die Hitze war drückend, aber Rantzay ließ keinerlei Unbehagen merken, nur dann und wann erhob sie sich, um nach dem Bären zu sehen, dann legte sie sich wieder hin.
Schließlich verließ Shardik das Flußufer und streckte sich unweit der Stelle, wo die Priesterin lag, auf einem Fleck mit großen Schierlingspflanzen aus. Sie hörte das hohle Geräusch der abbrechenden Stengel und sah, wie die weißen Blütendolden fielen, als der Bär sich zwischen ihnen wälzte. Es wurde wieder still, und es bedrückte sie erneut die Last ihrer undurchführbaren Aufgabe und die Qual ihres Entschlusses. In ihrer Bestürzung und Ermattung dachte sie voll Neid an ihre endlich von jeder Last befreite Freundin – für sie gab es nicht mehr die mühselige Hingabe an die Terrassen, nicht die andauernde Erschöpfung und Angst der letzten Wochen. Wenn man die Vergangenheit nur ändern könnte – eine ihrer Lieblingsphantasien, von der sie nie jemandem, auch Anthred nicht, erzählt hatte. Wenn sie die Macht hätte, die Vergangenheit zu verändern, an welchem Punkt würde sie eingreifen? In jener Nacht vor einem Monat am Strand von Quiso? Diesmal würde sie sie nicht ins Inselinnere führen, sie würde die nächtlichen Boten, Shardiks Herolde, zurückweisen.
Es war dunkel. Es war Nacht. Wieder standen sie und Anthred auf dem steinigen Ufer, die flache, grüne Laterne zwischen sich, und schlugen mit ihren Stöcken spritzend auf das seichte Wasser.
»Kehrt um!« rief sie ins Dunkel. »Kehrt um, zurück, woher ihr gekommen seid! Ihr hättet nie kommen dürfen! Ich – ja, ich selbst – bin Gottes Stimme, und das ist die Botschaft, die ich euch mitzuteilen habe!«
Sie spürte, wie Anthred ihren Arm faßte, schob sie aber zur Seite. Die windlose, mondlose Dunkelheit lag dicht um sie, nur der Himmel wies noch eine schwache Spur von Licht auf. Etwas kam langsam platschend und schwerfällig ans Ufer. Eine riesige, schwarze Gestalt ragte über ihr auf, während der gesenkte Kopf sich von einer Seite zur anderen drehte; das Maul war offen, der Atem stinkend und scharf. Sie stand dem Bären gebieterisch gegenüber. Wenn er und sie erst einmal verschiedene Wege gegangen sein würden, dann – ach, dann würde sie mit Anthred zurückkehren in ihre Mädchenzeit, würde für immer Quiso den Rücken kehren. Sie hob ihren Arm und wollte eben wieder zu sprechen beginnen – aber mit einem weichen, zottigen Platschen nasser Füße wanderte die Erscheinung an ihr vorbei und verschwand in der waldigen Insel.
Das Licht blendete sie, und der Lärm zankender Vögel drang an ihr Ohr. Rantzay sah sich verwundert um. Sie stand knietief in dem trockenen, gelbbraunen Gras. Die Sonne war mit einem dünnen Wolkenvlies bedeckt, und plötzlich lief in der Ferne ein lang anhaltendes Donnerrollen über den Himmelsrand. Ein Insekt hatte sie in den Hals gestochen, und als sie mit den Fingern über die Stelle strich, zog sie sie blutbeschmiert zurück. Sie war allein. Anthred war tot, und sie selbst stand in dem vertrockneten, rauhen Wald südlich des Telthearnas. Tränen flossen über ihr hageres, staubiges Gesicht, als sie sich vorgebeugt auf ihren Stab stützte.
Nach einiger Zeit biß sie sich fest in die Hand, richtete sich auf und sah sich um. Aus einiger Entfernung blickte Nito unter den Bäumen herüber, dann kam sie näher und starrte sie ungläubig an.
»Mutter Oberin – was – der Bär – was hast du getan? Bist du unverletzt? Warte – lehne dich an mich. Ich – oh, ich hatte solche Angst – ich habe solche Angst – «
»Der Bär?« sagte Rantzay. »Wo ist der Bär?«
Als sie sprach, bemerkte sie zum erstenmal einen breiten, neben sich im Gras ausgetretenen Pfad und darauf, breiter als Dachziegel, da und dort Shardiks Spuren. Sie beugte sich nieder. Der Geruch des Bären war deutlich wahrnehmbar; er konnte hier, erst nachdem sie ihn zuletzt zwischen dem Schierling gesehen hatte, gegangen sein. Benommen hob sie die Hände ans Gesicht und wollte Nito gerade fragen, was geschehen sei, als sie sich noch eines weiteren körperlichen Elends bewußt wurde; ihre Tränen rannen wieder – Tränen der Scham und der Erniedrigung.
»Nito, ich – ich gehe hinunter zum Fluß. Sage den Mädchen, sie sollen sofort Shardik, unserem Herrn, folgen.
Weitere Kostenlose Bücher