Shelter Bay - 02 - Furienlied
Will hatte sie schweigend hergefahren, und sobald er eingeparkt hatte, war sie ausgestiegen und ohne auf ihn zu warten auf das Schulgebäude zugelaufen. Er hatte nicht versucht, sie einzuholen.
Zoe fühlte sich wie eine leere Hülle, ausgetrocknet und bereit, beim geringsten Lufthauch davonzuschweben. Sie hatte das Gefühl, als gebe es nichts mehr, was sie auf der Erde hielt. Sie trug ungewohnte Klamotten, lief zwischen unbekannten Leuten umher und wohnte in einem unvertrauten Zimmer. Selbst ihr Körper fühlte sich fremd an.
Wer bin ich?
Wer bin ich wirklich?
Die Tochter des Feuers.
Die Antwort war wie ein Schlag ins Gesicht. Sie blieb abrupt stehen.
Kirk bog um die Ecke und sie fand sich Auge in Auge mit dem Künstler, der schattenhafte, Furcht einflößende Frauen zeichnete, die halb im Wasser der Bucht verschwanden. Zoe wusste nicht, in welcher Verbindung ihr Traum zu dem Feuer in ihrem Zimmer stand, aber sie spürte in ihren Knochen, dass alles – alles, was mit ihr vorging – Teil desselben Ganzen war. »Erzähl mir von deinen Bildern«, bat sie Kirk.
Seine dunklen Augen weiteten sich und seine geraden schwarzen Brauen zogen sich zusammen. Er umklammerte sein dickes Geschichtsbuch, als wäre es ein Schutzschild. »Was?«
»Erzähl mir was von dem Gesicht im Wasser«, drängte Zoe.
»Ich …« Kirk sah Hilfe suchend an ihr vorbei, aber niemand beachtete sie. »Ich kann nicht … Weißt du es denn nicht?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Die … die Seekrieger. Die du …« Er wand sich. »Die du getötet hast.«
Zoes Mund wurde plötzlich ganz trocken, wie ein Tropfen Wasser, der in einer heißen Pfanne verdunstet. Ich hab mich verhört, versicherte sie sich selbst. »Was?«
Daraufhin erschauderte Kirk leicht. Er sah verzweifelt aus. »In der Nacht, als du die Bucht in Brand gesetzt hast, hast du sie getötet. Asia, alle. Die Rachegöttin ist erwacht.«
»Asia?« Das letzte bisschen, das sie noch mit der Erde verband, schien von ihr abzufallen, und Zoe hatte das Gefühl, als rutsche sie von der Oberfläche des Planeten. »Asia?«
»Warum tust du mir das an?« Sie bemerkte, dass Kirk zitterte. Eine Träne lief aus seinem rechten Auge. »Warum fragst du mich das alles?« Er war verängstigt, das konnte sie sehen. »Vielleicht bin ich … vielleicht bin ich …« Er hob die Hand an den Kopf.
Aber sie hatte nicht die Kraft, ihn zu trösten. Sie drehte sich um und rannte los, krachte jedoch mit voller Wucht in die Person hinter ihr. Beide fielen der Länge nach hin und ihre Bücher und Collegeblöcke segelten zu Boden. Die Schüler um sie herum wichen zur Seite.
Es war Will, mit dem sie zusammengestoßen war.
Will sah zu Kirk, dann zu Zoe. »Was sagt er?«, fragte Will fordernd. »Ich hab gesehen, wie ihr euch unterhalten habt. Was hat er dir erzählt?«
Kirk rannte davon und Zoe spürte, wie sie Will am Kragen packte. Ihre Stimme war nur ein heiseres Wispern, kaum mehr als ein Hauch: »Warum hast du es mir nicht gesagt?« Sie rappelte sich auf, ließ ihre Bücher liegen, wo sie waren, und stürmte durch die Doppeltür.
»Zoe!«
Sie hörte, wie Will ihren Namen rief, wie das Echo von den Wänden zurückgeworfen wurde, aber die Silben erstarben, als die Tür hinter ihr zufiel. Sie wusste nicht einmal, wohin sie rannte – sie wusste nur, dass sie fortwollte.
Die Luft war kalt und schlug ihr ins Gesicht, als sie die Stufen hinablief. Die Türen wurden hinter ihr aufgeschlagen und sie hörte einen Schrei – Wills Stimme. »Zoe!«
Sie rannte zum Parkplatz, aber Wills Beine waren länger und er schlüpfte zwischen sie und die Autotür.
»Lauf nicht vor mir weg«, bat er.
»Was hat er gemeint, Will?« Sie starrte zu ihm hoch. Ihr ganzer Körper war angespannt; sie musste die Wahrheit wissen. »Er hat gesagt, ich hätte Asia getötet.« Sie blickte ihm in die Augen, die sich zu einem Blau, das beinahe schon grau war, zu verdunkeln schienen, wie der Rand einer Gewitterwolke, kurz bevor es anfängt zu regnen. Sie zitterte vor Angst, zwei Sorten von Angst – die Furcht, dass Will ihr endlich die Wahrheit sagen würde, und die Furcht davor, dass er es nicht tat. Sie sehnte sich nach der Wahrheit wie ein Ertrinkender nach Luft. »Hab ich sie getötet?«
»Zoe …« Will strich sich durchs Haar, wobei er die Narbe freilegte, die über sein Gesicht lief. Er sah zur Seite, als suche er die richtigen Worte.
»Denk nicht drüber nach«, sagte Zoe. »Ja oder nein, Will.«
Seine Augen hefteten sich auf
Weitere Kostenlose Bücher