Sherlock Holmes - Der Vampir von Sussex
verdeckt. Ich hoffe darum, daß wir hier einen bösen Fehler aufdecken können.«
»Aber es müßte so vieles erklärt werden.«
»Wir werden sehen, wie sich die Dinge erklären lassen. Wenn man einmal seine festange-nommene Absicht geändert hat, dann kann dieselbe Sache, die vorher so belastend gewirkt hat, ein Hinweis auf die Wahrheit sein. Da ist zum Beispiel dieser Revolver. Miß Dunbar behauptet, nie etwas davon gehört zu haben. Nehmen wir an, daß sie mit dieser Behauptung die Wahrheit sagt. Deshalb hat ihn jemand zwischen ihre Wäsche plaziert. Wer hat das aber getan? Auf jeden Fall jemand, der sie belasten wollte. War das nicht die Person, die in Wahrheit das Verbrechen begangen hat? Sie sehen, wie unsere Untersuchung gleich ganz andere Formen annimmt.«
Es blieb uns nichts anderes übrig, als die Nacht in Winchester zu verbringen, denn die Formu-lare waren noch nicht fertig gewesen. Aber am nächsten Morgen durften wir sie zusammen mit Mr. Joyce Cummings, einem emporstrebenden Rechtsanwalt, dem man ihre Verteidigung anvertraut hatte, besuchen. Wir wurden in die Zelle der jungen Frau geführt. Von allem, was ich gehört hatte, war ich darauf vorbereitet, eine schöne junge Frau zu erblicken, aber ich werde wohl niemals den Eindruck vergessen, den Miß Dunbar auf mich machte. Es war kein Wunder, daß der mächtige Millionär in ihr etwas fand, das stärker war, als er selber - irgend etwas, das ihn führen und leiten konnte. Man fühlte, wenn man nur einen Blick in die starken, klaren und doch geheimnisvollen Augen tat, daß sie, selbst wenn sie fähig gewesen wäre, etwas Unüberlegtes aus einem Impuls heraus zu tun, sie aber dennoch einen so noblen Charakter hatte, der sie immer zum Guten beeinflussen würde. Sie war großgewachsen, brü-nett, mit einer edlen königlichen Figur ausgestattet. Aber ihre dunklen Augen hatten den bittenden, hilflosen Ausdruck eines gejagten Tieres, das die Netze um sich herum spürt, aber nicht weiß, wie sie sich daraus befreien kann. Jetzt, in der Nähe meines berühmten Freundes spürte sie Hilfe. Ein wenig Farbe kam in ihre blassen Wangen und ein Hoffnungsschimmer in die Augen, als sie sich uns zuwandte.
»Vielleicht hat Mr. Neil Gibson Ihnen etwas von unserem Verhältnis zueinander erzählt?«
fragte sie mit leiser, besorgter Stimme.
»Ja«, sagte Holmes, »quälen Sie sich nicht. Sie brauchen auf diesen Teil der Geschichte nicht einzugehen. Nachdem ich Sie jetzt gesehen habe, bin ich geneigt, Mr. Gibsons Bericht über den Einfluß, den Sie auf ihn haben, als auch über Ihre Unschuld in Ihrer Beziehung zu ihm zu glauben. Aber warum wollten Sie vor dem Untersuchungsrichter nicht aussagen?«
»Es schien mir unglaublich, daß man an einem solchen Verdacht festhalten könnte. Ich dachte, wenn wir ein bißchen warten, würde sich die Angelegenheit von alleine klären, ohne daß es nötig werden müßte, die inneren Verhältnisse der Familie mit all ihren schmerzlichen Einzelheiten aufzudecken. Aber ich verstehe, daß statt sich zu klären, die Sache nur noch schwieriger geworden ist.«
»Meine liebe junge Frau«, rief Holmes ernst, »ich bitte Sie, an diesem Punkt sich keinen Illu-sio nen hinzugeben. Mr. Cummings wird es bestätigen können, daß im Augenblick alle Karten gegen sie gerichtet sind und daß wir alle Kräfte zusammennehmen müssen, um zu gewinnen.
Es wäre grausamer Betrug, Sie in dem Glauben zu lassen, daß Sie nicht in der größten Gefahr sind. Bitte, helfen Sie mir so gut Sie können, damit wir an die Wahrheit gelangen. «
»Ich will Ihnen nichts verbergen.«
»Erzählen Sie uns dann von Ihrem Verhältnis zu Mr. Gibsons Frau. «
»Sie hat mich gehaßt, Mr. Holmes. Sie hat mich mit all der Leidenschaft ihrer tropischen Natur gehaßt. Sie war eine Frau, die nichts Halbes machte. Das Maß ihrer Liebe zu ihrem Mann war das Maß ihres Hasses gegen mich. Es ist möglich, daß sie das Verhältnis zwischen ihm und mir mißverstand. Ich möchte ihr kein Unrecht tun, aber sie liebte ihn so intensiv in einem sinnlichen, körperlichen Sinn, daß sie das mentale, ja, sogar spirituelle Band zwischen mir und ihrem Mann nicht verstehen konnte. Sie konnte vermutlich auch nicht begreifen, daß es nur mein Wunsch war, Gutes zu tun, der mich noch unter dem Dach hielt. Ich weiß jetzt, daß ich Unrecht hatte. Nichts hätte mich an dem Ort halten dürfen, wo ich der Grund für unglückliche Gefühle geworden bin, und doch wären auch unglückliche Gefühle
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