Sherlock Holmes - gesammelte Werke
Sie führten in leere, staubige, öde Zimmer, das eine mit zwei, das andere mit einem Fenster, die sämtlich derart mit Schmutz überzogen waren, dass die abendliche Helle nur trübe durchschimmerte. Die mittlere Tür war zu und quer herüber durch eine dicke eiserne Stange verrammelt, die an einem Ende mit einem Vorlegeschloss an einen Ring in der Wand befestigt war, am anderen mit einem starken Strick. Die Tür selbst war verschlossen und der Schlüssel abgezogen. Diese verrammelte Tür gehörte offenbar zu demselben Raum wie das Fenster mit dem geschlossenen Laden an der Außenseite, und doch konnte ich an dem hellen Streifen unten sehen, dass es drinnen nicht dunkel war. Offenbar fiel durch ein Oberlicht Licht hinein. Während ich in dem Gang stand und die unheimliche Tür betrachtete und mich dabei verwundert fragte, hörte ich plötzlich im Innern Schritte und sah, wie in dem schmalen, trüben Lichtstreifen, der unter der Tür durchfiel, ein Schatten sich vor- und rückwärts bewegte. Ein jäher sinnloser Schrecken fasste mich bei diesem Anblick. Meine überreizten Nerven versagten plötzlich, ich wandte mich um und rannte davon – rannte, als wäre eine grässliche Hand hinter mir her, um mich am Saum meines Kleides zu fassen. Ich lief den Gang entlang und zu der Tür hinaus – gerade Mr Rucastle in die Arme, der außen stand und wartete.
›So‹, sagte er lächelnd, ›also Sie waren es. Ich dachte es mir gleich, als ich die Tür offen stehen sah.‹
›Oh, ich bin so erschrocken‹, stieß ich zitternd hervor.
›Mein liebes Fräulein, mein liebes Fräulein!‹ Sie glauben gar nicht, in wie liebevollem, sanftem Ton er dies sagte. ›Und was hat Sie erschreckt, mein liebes Fräulein?‹
Aber seine Stimme klang doch ein wenig gar zu schmeichelnd. Man merkte gleich, dass er unbefangen scheinen wollte.
›Ich war so töricht und betrat den unbewohnten Flügel‹, antwortete ich. ›Aber es ist so einsam und öde dort bei dieser trüben Beleuchtung, dass mich die Angst packte und ich eilends wieder umkehrte. Oh, es ist so schauerlich still da drinnen!‹
›Nichts sonst?‹, fragte er und sah mich dabei scharf an.
›Wieso, was meinen Sie damit?‹, fragte ich.
›Wozu glauben Sie wohl, dass ich diese Tür verschließe?‹
›Das weiß ich wirklich nicht.‹
›Nun, damit niemand hineingeht, der nichts darin zu schaffen hat. Verstehen Sie?‹ Dabei lag noch immer das liebenswürdige Lächeln auf seinen Zügen.
›Ganz gewiss, hätte ich das gewusst, ich ...‹
›Nun, jetzt wissen Sie es also; und sofern Sie je wieder Ihren Fuß über jene Schwelle setzen‹ – dabei verwandelte sich sein Lächeln mit einem Schlag in ein wuterfülltes Grinsen, und er stierte mich mit einem teuflischen Gesichtsausdruck an – ›so werfe ich Sie dem Hund vor.‹
Ich war so entsetzt, dass ich nicht mehr sagen kann, was ich tat. Vermutlich bin ich an ihm vorbei auf mein Zimmer geeilt. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf meinem Bett und bebte am ganzen Körper. Da fielen Sie mir ein, Mr Holmes. Ich hielt es nicht länger aus ohne Beistand. Es graute mir vor dem Haus, vor dem Herrn, vor der Frau, vor den Dienstboten, selbst vor dem Kind. Wenn ich Sie nur hier hätte, dachte ich, wäre ich ganz ruhig. Ich hätte ja freilich aus dem Haus entfliehen können, allein meine Neugier war fast ebenso groß wie meine Angst. Mein Entschluss war bald gefasst, ich wollte Ihnen telegrafieren. Ich nahm Hut und Mantel und ging nach dem ungefähr eine halbe Meile entfernten Telegrafenamt, und als ich zurückkam, war mir bereits viel leichter ums Herz. Vor dem Tor fasste mich plötzlich der schreckliche Gedanke, der Hund möchte am Ende losgelassen worden sein; doch fiel mir dann wieder ein, dass Toller sich an jenem Abend bis zur Sinnlosigkeit betrunken hatte, und er war, wie ich wusste, der einzige, der etwas mit dem gefährlichen Tier machen durfte; außer ihm würde es niemand wagen, dasselbe loszulassen. Unversehrt schlüpfte ich wieder herein und konnte die halbe Nacht nicht schlafen vor Freude bei dem Gedanken, dass Sie nun bald da sein würden. Urlaub in die Stadt erhielt ich heute früh ohne Schwierigkeit, aber ich muss vor drei Uhr zurück sein, denn Mr Rucastle geht mit seiner Frau fort auf Besuch, und sie werden den ganzen Abend ausbleiben, sodass ich nach dem Kind sehen muss. – Jetzt habe ich Ihnen alle meine Erlebnisse erzählt, Mr Holmes, und ich wäre sehr froh, wenn Sie mir sagen könnten, was dies alles zu
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