Sherlock Holmes - gesammelte Werke
unbeschreiblich traurigem Ausdruck schwebte gleichsam über das Moor zu uns heran. Es erfüllte die ganze Luft, und doch war es unmöglich, genau zu sagen, woher es kam. Erst war es wie ein eintöniges Geflüster, dann schwoll es an zu einem tiefen Brüllen und verhallte wieder zu einem melancholischen, zitterigen Flüstern. Stapleton sah mich mit einem eigentümlichen Gesichtsausdruck an und sagte:
»Sonderbarer Ort, dieses Moor!«
»Aber was ist es denn?«
»Das Landvolk sagt, es sei der Hund von Baskerville, der nach seiner Beute brüllt. Ich habe es bisher ein- oder zweimal gehört, aber niemals so laut.«
Ein Angstgefühl machte mir das Herz kalt, ich blickte rings um mich auf die gewaltige, von grünen Stellen übersprenkelte Ebene. Nichts regte sich auf der weiten Fläche als ein paar Raben, die mit lautem Gekrächz auf einer Felsspitze hinter uns saßen.
»Sie sind ein wissenschaftlich gebildeter Mann«, sagte ich. »Sie glauben doch nicht an einen solchen Unsinn? Was ist nach Ihrer Meinung die Ursache des seltsamen Tones?«
»Morastlöcher bringen manchmal sonderbare Geräusche hervor. Es kommt von herabsinkendem Schlamm oder vom aufsteigenden Wasser oder etwas anderem ähnlichen.«
»Nein, nein, das war die Stimme eines lebendigen Wesens!«
»Nun, vielleicht war es das. Haben Sie schon mal eine Rohrdommel brüllen gehört?«
»Nein, niemals!«
»Der Vogel ist in England jetzt sehr selten, man kann sagen, ausgestorben; aber auf dem Moor ist alles möglich. Ja, ich sollte mich nicht wundern, wenn sich feststellen ließe, dass der eben vernommene Ton der Schrei der letzten Rohrdommel war.«
»Ich habe nie in meinem Leben so etwas Sonderbares, Geisterhaftes gehört!«
»Ja, es ist eine recht unheimliche Gegend! Sehen Sie mal nach der Hügelreihe drüben. Was sehen Sie da?«
Der ganze steile Abhang war mit mindestens zwanzig ringförmigen grauen Steinbauten bedeckt.
»Was sind das denn für Dinger? Schafhürden?«
»Nein, es sind Heimstätten unserer würdigen Vorväter. In der vorgeschichtlichen Zeit war das Moor dicht von Menschen bevölkert, und da später niemand mehr da gewohnt hat, finden wir ihre ganze häusliche Einrichtung so, wie sie sie verlassen haben. Das sind ihre Wigwams ohne Dächer. Sie können sogar noch ihre Kochherde und ihre Lagerstätten sehen, wenn die Neugierde Sie hineinführt.«
»Aber das ist ja eine richtige Stadt! Wann war sie bewohnt?«
»In der neueren Steinzeit – Datum unbekannt.«
»Was taten die Menschen hier?«
»Sie weideten ihr Vieh auf diesen Abhängen; dann lernten sie nach Zinn graben, als das Bronzeschwert das Steinbeil zu verdrängen begann. Sehen Sie da die tiefe Grube am gegenüberliegenden Hügel? Das sind ihre Spuren. Ja, Sie werden allerlei absonderliche Sachen auf unserem Moor finden, Herr Doktor! Oh, entschuldigen Sie mich einen Augenblick. Ganz gewiss ist das ein Cyklopides!«
Ein kleiner Käfer oder Falter war vor uns über den Weg geflattert, und in einem Augenblick rannte Stapleton mit außerordentlicher Schnelligkeit und Gewandtheit hinter demselben her. Zu meinem Bedauern flog das kleine Ding auf den Morast zu, aber mein neuer Bekannter sprang, ohne sich zu besinnen, von einem Grasbüschel zum anderen, dass sein grünes Schmetterlingsnetz in der Luft flatterte. Ich sah ihm nach mit einem gemischten Gefühl von Bewunderung für seine außergewöhnliche Gewandtheit und von Furcht, er möchte den festen Grund unter den Füßen verlieren und in den trügerischen Morast hineingeraten. Plötzlich hörte ich Schritte und sah, als ich mich umdrehte, dicht vor mir auf dem Fußsteig eine weibliche Gestalt. Sie war aus der Richtung gekommen, in welcher, nach der Rauchsäule zu urteilen, Merripit House lag, aber die Bodenerhebung des Moores hatte sie meinen Blicken verborgen, bis sie ganz dicht bei mir war.
Ich konnte nicht daran zweifeln, dass ich Miss Stapleton, von der ich schon gehört hatte, vor mir sah; denn Damen mussten überhaupt sehr selten auf dem Moor sein, und ich erinnerte mich, dass von ihr als einer Schönheit gesprochen worden war. Eine Schönheit war die auf mich zukommende Frau ganz sicherlich, und zwar eine Schönheit ganz eigener Art. Man konnte sich keine größere Unähnlichkeit denken als zwischen diesem Geschwisterpaar; Stapleton hatte helles Haar und graue Augen, wie man’s jeden Tag sieht, sie dagegen war die dunkelste Brünette, die ich bis dahin in England gesehen hatte – schlank, groß, elegant. Ihr stolzes,
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