Sherlock Holmes - Studie in Scharlachrot
seine rigorose Ablehnung keinen Grund an, sondern begnügte sich mit dem unwandelbar
festen >Nein<. Etliche verdächtigten ihn, es mit seiner neuen Religion zu lau zu halten.
Andere warfen ihm vor, geizig zu sein und die Ausgaben zu scheuen. Wieder andere sprachen von einer frühen Liebesaffäre und einem blonden Mädchen, das an der Küste des Atlantiks gestorben sei. Was auch immer der Grund sein mochte, John Ferrier blieb bei seinem Zölibat.
Auf jedem anderen Gebiet jedoch hatte er sich völlig den religiösen Gepflogenheiten der jungen Siedler angepaßt. Er stand im Ruf, strenggläubig und aufrecht zu sein.
Lucy Ferrier wuchs im Blockhaus auf und half ihrem Adoptivvater bei der Arbeit. Die
kräftige Luft der Berge und der Duft der Fichten mußten dem jungen Mädchen Pflegerin und Mutter ersetzen. Jahr um Jahr wurde sie größer und kräftiger. Sie hatte
runde, rote Wangen und einen elastischen Gang. Manch einem, der an Ferriers Farm vorbei kam, stiegen längst vergessene Wünsche auf, wenn er die schlanke, mädchenhafte Gestalt durch die Weizenfelder gehen oder sie hoch zu Roß auf ihres Vaters Mustang sah. Und alles schaffte sie mit der Leichtigkeit eines Kindes, das im Westen großgeworden war. Die Knospe wuchs zur Blüte. In dem Jahr, als man ihren Vater zu den reichsten Farmern im ganzen Gebiet rechnen konnte, zählte sie zu den schönsten jungen Mädchen, die im Umkreis gefunden
werden konnten.
Es war jedoch nicht der Vater, der entdeckte, daß das Mädchen zu einer jungen Frau
herangereift war. Das ist ja auch selten der Fall. Das Geheimnis dieser Wandlung ist so fein und geschieht so allmählich, daß man es nicht mit Daten messen kann. Am wenigsten weiß das junge Mädchen selber, was mit ihm geschieht, bis eines Tages ein bestimmter Ton oder die Berührung einer Hand ihr ein unbekanntes Herzklopfen verursacht. Dann begreift sie plötzlich mit einer Mischung aus Furcht und Stolz, daß eine neue, stärkere Natur in ihr erwacht ist. Es gibt wenige, die sich dieses Tages, wenn gewisse Ereignisse dieses Sein ankündigen, nicht erinnern. Lucie Ferriers Fall war an sich schon recht dramatisch, ganz zu schweigen von den Geschehnissen, die sich später ereignen sollten, und die richtungsweisend nicht nur für ihr Leben, sondern ebenso für eine Reihe anderer Personen werden sollten.
Es war ein warmer Junitag. Die Heiligen vom letzten Tage waren fleißig wie die Bienen, deren Korb sie sich als Wahrzeichen erwählt hatten. Sowohl auf den Feldern wie auch in den Straßen herrschte der lebendige Betrieb fleißiger Menschen. Drunten auf der staubigen Straße zog ein Zug von schwerbepackten Mauleseln dem Westen zu, denn in Kalifornien war das
Goldfieber ausgebrochen, und die Überlandroute führte durch die Stadt der Erwählten. Auf dieser Straße zogen auch Herden von Schafen und Rindern, die zu weit entfernten
Weideplätzen getrieben wurden, ebenso sah man auf dieser Straße Züge müder Immigranten, Männer und Pferde, die gleichfalls müde von der endlosen Reise waren. Durch dieses bunte Treiben hindurch ritt Lucy Ferrier, die eine geübte Reiterin geworden war. Ihr helles Gesicht war rot vom Ritt, das lange, kastanienbraune Haar flatterte im Wind. Sie hatte einen Auftrag ihres Vaters in der Stadt zu erfüllen. Mit der Furchtlosigkeit der Jugend gallopierte sie dahin, wie sie es oft vorher auch getan hatte. Sie dachte an ihren Auftrag und wie sie ihn am besten ausführen sollte. Ein von der Reise beschmutzter Abenteurer blickte staunend und
bewundernd hinter ihr her. Sogar die indianischen Pelzhändler, deren Gesichtern man selten Gefühle ansieht, entspannten ihre stoischen Züge, wenn sie dem schönen Mädchen
nachschauten. Sie hatte den Stadtrand bereits erreicht. Plötzlich war die Straße durch eine große Rinderherde blockiert, die von einem halben Dutzend wild aussehender Hirten aus der Prärie herangetrieben wurden. In ihrer Ungeduld versuchte sie das Hindernis auf ihre Art zu bewältigen. Sie trieb ihr Pferd in eine Lücke in der Herde. Kaum war sie jedoch in dieser Lücke, als die Rinder sie hinter ihr schlossen. Sie fand sich umringt von wütenden Bullen mit scharfen Hörnern. Sie war jedoch an Rinderherden gewöhnt und so erschrak sie auch nicht, sondern nutzte jede Gelegenheit, voranzukommen. Sie hoffte, heil durch die Rinderherde hindurch zu gelangen. Unglücklicherweise aber stieß entweder aus Versehen oder aus Unmut eines der Rinder mit den Hörnern in die Flanken des Pferdes.
Weitere Kostenlose Bücher