Sheylah und die Zwillingsschluessel
weiß, es ist eher unwahrscheinlich, aber es ist möglich“, überlegte er. Der Graf musterte Sheylah eingehend und überlegte. „Sagt mir, Sheylah, wie hieß Eure Großmutter?“, fragte er plötzlich. Was hatte ihre Großmutter damit zu tun? „Eure Großmutter, wie hieß sie?“, wiederholte er ungeduldig. „Alice“, antwortete sie. „Das ist völlig unmöglich!“, rief Viktor.
„Mein Gott!“, flüsterte der Graf. Nach ihren Worten breitete sich im Saal Unruhe aus. Hatte sie was verpasst? Warum der plötzliche Tumult? Auch Djego starrte sie fassungslos an. Das machte Sheylah ein wenig nervös. „Was ist, was haben die alle?“, fragte sie ihn. Er antwortete nicht, sondern starrte plötzlich ins Leere. „Kann mir hier mal bitte jemand verraten, was los ist!“, rief sie. Der Saal verstummte. „Sheylah, meine Liebe“, meldete sich der Graf mit belegter Stimme zu Wort. „Deine Großmutter Alice war Zizilias Tochter.“ „Sie spinnen doch“, antwortete sie und lachte höhnisch, doch der Graf lachte nicht und auch sonst keiner. „Ach kommen Sie, das ist doch Schwachsinn. Meine Großmutter ist die Tochter von eurer Prinzessin Zizilia? Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst, oder?“ Der Graf antwortete nicht, sondern fragte: „Wie alt, seid Ihr?“ „Einundzwanzig“, antwortete Sheylah. „Wie alt war Eure Mutter, als sie Euch geboren hat?“ „Zweiundzwanzig.“ „Und wie alt war Eure Großmutter, als Eure Mutter zur Welt kam?“ Sheylah überlegte. „Genauso alt.“ „Hm“, machte er. „Als Zizilia und ihre Tochter Alice verschwanden, war Alice sechs Jahre alt. Das macht alles zusammen rund sechzig Jahre.“ „Und?“, fragte Sheylah, „Reiner Zufall.“ „Es ist eigenartig, dass vor sechzig Jahren Prinzessin Alice spurlos verschwand und sechzig Jahre später Ihr auftaucht und den Schlüssel bei Euch tragt. Habt Ihr Euch denn nie gefragt, wieso wir überhaupt von dem Schlüssel wissen? Hattet ihr nie sonderbare Träume über vergangene Schlachten und magische Wesen? Oder Erinnerungen, die gar nicht Eure sein können?“ Sheylah hatte plötzlich einen dicken Kloß im Hals. „Es sind Erinnerungen deiner Vorfahren, Erinnerungen von vorherigen Schlüsselträgern, aufbewahrt in Tarems Innern.“ „Ich glaube euch nicht, das ist unmöglich“, beharrte sie stur weiter. Sie wollte jetzt nichts mehr von diesem Unsinn hören. „Holt mir das Gemälde“, verlangte der Graf und eine Wache spurtete aus dem Saal. Nach wenigen Minuten kam er wieder. In der Zwischenzeit hatte niemand ein Wort gesprochen. Das Gemälde hatte einen goldenen Rahmen und war fast so groß wie ein ausgewachsener Mensch. Es war wohl schwer, denn der Ritter mühte sich wirklich ab. Ein zweiter Ritter kam unaufgefordert dazu und zusammen stellten sie das Gemälde auf den Tisch, Sheylah zugewandt. Sie wollte nicht akzeptieren, was sie dort sah. Auf dem Gemälde sah sie sich selbst, ein paar Jahre älter, auf einem goldenen Thron sitzen.
Sie trug eine goldene, aber zierlich gehaltene Krone auf einer hochzeitlich anmutenden Hochsteckfrisur. Ein traumhaft weißes, mit Gold besetztes Kleid zierte ihre Figur und bauschte sich durch ihre sitzende Position auf. Um den Hals trug sie einen silbernen Schlüssel mit rotem Rubin. Es war Tarem. Wenn Sheylah sich in der gleichen Position vor das Gemälde setzen würde, wäre es, als schaute sie in einen Spiegel. Okay, sie hatten offenbar wirklich Recht. Diese Person war eindeutig Sheylahs Ebenbild, daran bestand kein Zweifel. Aber als sie die zweite Person auf dem Bild betrachtete, zog sich ihr Magen zusammen. Ein kleines Mädchen mit rabenschwarzem Haar und großen Augen saß auf ihrem Schoß. Es war vielleicht vier Jahre alt und trug ein rosafarbenes Kleid, das sich ebenfalls aufgebauscht hatte und strahlte über beide Ohren. Hätte Sheylah ihr Portemonnaie dabeigehabt, hätte sie ein ähnliches Foto daneben halten können. Zwar aus einer anderen Zeit und mit moderner Kleidung und vielleicht zwei bis drei Jahre älter, aber jeder hätte erkannt, dass es sich auf beiden Bildern um die gleiche Person handelte: ihre Oma Alice. Sheylah hatte sie nie kennengelernt, jedoch ein Foto von ihrer Mutter bekommen. Ihr Atem ging stoßweise, sie bekam keine Luft mehr. Sie spürte, dass ihr die Knie weich wurden und wankte bedrohlich, doch bevor sie fallen konnte, stützte sie Djego.
Er hatte sehr nah bei ihr gestanden, als habe er damit gerechnet. „Holt ihr ein Glas Wasser“, befahl der Graf, sein Blick
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