Shoal 01 - Lichtkrieg
er zum ersten Mal die kleine Figur.
Dakota war alles andere als ordnungsliebend. Wenn man sich durch die Module ihres beengten, mit allem möglichen Zeug vollgestopften Schiffs bewegte, stieß man ständig mit irgendwelchen Dingen zusammen. Kleine, dekorative Objekte waren an die Wände gepinnt oder schwebten, an dünnen Fäden befestigt, durch die Luft. Andere Erinnerungsstücke und Gegenstände, die möglicherweise sogar kleine Kunstwerke waren, hatte sie scheinbar wahllos an jede verfugbare Oberfläche geklebt. Manche trieben auch frei durch die Kammern, und wenn man nicht aufpasste, knallten sie einem im unpassendsten Moment gegen den Kopf.
Auf den ersten Blick erkannte er, dass die Figur uchidanischen Ursprungs war; und plötzlich fiel ihm wieder ein, was Dakota ihm über sie erzählt hatte. Ein Shoal-Mitglied, dem sie auf Bourdains Rock zum ersten Mal begegnet war, hatte ihr das Ding geschenkt. Es war eindeutig der berühmten Statue von Belle Trevois nachempfunden.
Dieses Originaldenkmal stellte Belle Trevois im Alter von dreizehn Jahren dar. Das Mädchen war auf Leverrier II zur Welt gekommen, vor über hundert Jahren, während des Diaspora-Konflikts. Ihre Eltern, einstmals fromme Anhänger von Moscba Org, verloren durch die Belagerung des Hubbard-Raumhafens ihr gesamtes Hab und Gut. Danach traten sie zum uchidanischen Glauben über, was bedeutete, dass sie die Licht-der-Wahrheit-Implantate akzeptierten, die das Kernstück des uchidanischen Glaubenssystems bildeten.
Diese Entscheidung konnte ihnen nicht leicht gefallen sein, zumal zahlreiche andere uchidanische Konvertiten auf Leverrier ermordet worden waren. Man befand sich mitten im Krieg, und die Uchidaner standen generell im Verdacht, sich als Spione zu betätigen. Allerdings konnte ihr Entschluss auch rein pragmatisch bedingt gewesen sein, da die Uchidaner nicht in den Diaspora-Konflikt verwickelt waren und deshalb ungehindert in den Orbit fliegen durften.
Belle hatte jedoch das Pech, dass ihre Eltern so töricht waren, den uchidanischen Medizin-Priestern zu gestatten, auch in den Kopf ihrer Tochter Implantate einzupflanzen. Diese Implantate übernahmen dann die Steuerung ihres limbischen Systems und erzeugten das gleiche technologisch induzierte Gefühl einer ständigen spirituellen Ekstase, wie ihre Eltern sie bereits erlebten. Diese Geschichte gelangte an die große Glocke, und die ehemals nur sporadischen Angriffe gegen die Uchidaner auf Leverrier II eskalierten während der folgenden Woche zu pogromartigen Zuständen, befeuert durch moralische Entrüstung.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatten Belle und ihre Familie Zuflucht in einem uchidanischen Tempel im Zentrum von Leverriers Hauptstadt gefunden, in Ville d’Aiguille. Schlichtungsversuche seitens des Konsortiums konnten die politische Situation nicht entschärfen, und überall kam es zu gewaltsamen Ausschreitungen. Als die Lage dann vollends aus dem Ruder geriet, brachen Aufständische in den Tempel ein und ermordeten jeden, der sich darin befand, einschließlich Belle und ihre Eltern. Das Tragischste an dieser Katastrophe war vielleicht der Umstand, dass das Massaker nur wenige Stunden vor ihrer geplanten Evakuierung passierte; alles war schon dafür vorbereitet, diese Leute auf neutralen Schleppern endlich in den Orbit zu transportieren.
Dieses kaltblütige Abschlachten unschuldiger Menschen rief allenthalben Empörung hervor, und im Laufe der folgenden Jahrzehnte erhob man Belle Trevois, das dreizehnjährige Mädchen, das einen grausamen, sinnlosen Tod gestorben war, in den Rang einer Märtyrerin. Die Uchidaner verehrten sie gewissermaßen als ein Symbol ihrer Unterdrückung. Statuen von Belle, wie sie mit weit ausgebreiteten Armen dastand, gab es in den meisten uchidanischen Tempeln, die im gesamten Konsortiumsbereich verstreut lagen, und auf alle Fälle in den heiligen Stätten der Uchidaner, denen noch ein Existenzrecht eingeräumt worden war. Selbst Corso, ein loyaler Freistaatler, musste zugeben, dass die Verbrechen, die man an den Uchidanern begangen hatte, viel schlimmer waren als die Gräueltaten, die man ihnen unterstellte.
Und hier sah er das Abbild dieser kindlichen Märtyrerin wieder, ausgerechnet auf Dakotas Schiff. Belle Trevois, in Form einer schlichten religiösen Ikone …
Aufmerksam betrachtete er die Figur. Irgendetwas daran stimmte nicht.
»Piri«, fragte Corso laut, »wo hat Dakota dieses Ding bekommen?«
»Auf Bourdains Rock.«
»Und wie genau kam es dazu? Frische
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