Shogun
und jede Ehre, die ihr zustand. Abermals griff sie an, und wieder parierte er den Schlag, der einen geringeren Kämpfer überwältigt hätte, und wich nochmals einen Schritt zurück. Schweiß strömte ihr übers Gesicht. Ein Brauner stürzte vor, ihr zu helfen, doch sein Offizier befahl ihm leise stehenzubleiben, denn er wußte, daß niemand eingreifen durfte. Samurai auf beiden Seiten warteten auf das Signal. Sie fieberten danach zu töten.
In der Menge barg ein Kind seine Augen in den Röcken seiner Mutter. Sanft wehrte sie es ab und kniete nieder. »Bitte, sieh zu, mein Sohn«, murmelte sie. »Du bist Samurai!«
Mariko wußte, daß sie nicht viel länger durchhalten konnte. Sie keuchte vor Erschöpfung und spürte die brütende Feindseligkeit um sie herum. Dann begannen vor ihr und neben ihr Graue sich von den Mauern zu lösen, und der Kreis um die Marschsäule zog sich rasch zusammen. Ein paar Graue kamen herbei und versuchten, sie in die Mitte zu nehmen, und sie hörte auf, weiter voranzugehen. Jetzt näherten sich Braune, ihr zu helfen, und der Rest nahm um die Sänfte herum Aufstellung. Die Atmosphäre in der Gasse war voll von bösen Ahnungen, jeder Mann wußte, was er zu tun hatte, der süße Blutgeruch war in ihrer aller Nase.
»Wartet!« rief sie. Alle hörten auf. Sie verneigte sich halb vor ihrem Gegner, kehrte ihm dann hocherhobenen Hauptes den Rücken zu und marschierte zu Kiri zurück. »Tut … tut mir … so … leid, aber im Augenblick ist es unmöglich, sich durch diese Männer hindurchzukämpfen«, sagte sie mit wogender Brust. »Wir … wir müssen fürs erste zurück.« Schweiß rann ihr in Strömen übers Gesicht, als sie die Reihe der Männer entlang zurückging. Als sie zu Kiyama gelangte, blieb sie stehen und verneigte sich vor ihm. »Diese Männer haben mich daran gehindert, meine Pflicht zu erfüllen und meinem Lehnsfürsten zu gehorchen. Mit dieser Schande kann ich nicht länger leben, Euer Gnaden. Ich werde bei Sonnenuntergang Seppuku begehen und bitte Euch in aller Form, mein Sekundant zu sein.«
»Nein. Das werdet Ihr nicht tun.«
Ihre Augen blitzten, und furchtlos hallte ihre Stimme wider. »Wenn man uns nicht gestattet, unserem Gebieter zu gehorchen, wie es unser Recht ist, werde ich bei Sonnenuntergang Seppuku begehen!«
Sie verneigte sich und ging auf das Tor zu. Kiyama erwiderte die Verneigung, und seine Männer taten desgleichen. Und dann verneigten sie sich alle – auf der Gasse und auf den Zinnen und an den Fenstern. Alle verneigten sich vor ihr, um ihr zu huldigen. Sie durchschritt das Tor, überquerte den Vorhof und ging in den Garten. Ihre Schritte führten sie zu dem abgeschlossenen rustikalen kleinen Teehaus. Sie trat ein, und als sie allein war, weinte sie um alle Männer, die den Tod gefunden hatten.
56. Kapitel
»Wunderschön, neh?« Yabu zeigte nach unten.
»Bitte?« fragte Blackthorne.
»Es war ein Gedicht. Ihr versteht ›Gedicht‹?«
»Ich verstehe das Wort, ja.«
»Es war ein Gedicht, Anjin-san. Seht Ihr das nicht?«
Hätte Blackthorne die entsprechenden Wörter gekannt, er hätte sagen können: Nein, Yabu-san. Ich habe nur zum ersten Mal klar erkannt, was sie überhaupt vorhat – von dem Augenblick an, da sie den ersten Befehl gab und Yoshinaka den ersten Grauen tötete. Ein Gedicht? Es war ein furchtbares, mutiges, sinnloses und ungeheuerliches Ritual, in dem der Tod ebenso in eine Form gebracht und unausweichlich ist wie bei der spanischen Inquisition – und alle diese Toten zu nichts weiter dienen als dazu, Marikos Tod vorzubereiten. Jeder ist jetzt festgelegt, Yabu-san – Ihr, ich, die Burg, Kiri, Ochiba, Ishido, alle –, und zwar, weil sie einen Entschluß gefaßt hat, von dem sie überzeugt ist, daß er notwendig ist. Und wann hat sie diesen Entschluß gefaßt? Schon vor langer Zeit, neh? Oder besser gesagt, Toranaga hat ihn für sie gefaßt.
»Tut mir leid, Yabu-san, aber nicht genug Wörter«, sagte er.
Yabu hörte ihn kaum. Grabesstille herrschte auf den Zinnen und in der Gasse. Alle standen regungslos da wie die Statuen. Die Sonne sengte auf sie herab, als sie aus ihrer Erstarrung erwachten.
Von Schwermut erfüllt, seufzte Yabu auf. »Es war ein Gedicht, Anjin-san«, sagte er noch einmal und verließ den Söller.
Als Mariko das Schwert gepackt und allein vorangegangen war, wäre Blackthorne am liebsten in die Arena hinuntergesprungen und hätte sich auf ihren Gegner gestürzt. Doch wie alle anderen hatte auch er gar
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