Shutter Island
meinen.«
»War Dr. Sheehan an dem Abend dabei?«
Sie schaute erst Chuck, dann Teddy an und biss sich auf die Oberlippe. »Ja. Er war da.«
»Wie ist er so?«
»Dr. Sheehan?«
Teddy nickte.
»Ganz in Ordnung. Er ist nett. Sieht gut aus.«
»Sieht gut aus?«
»Ja. Er … ist keine Beleidigung fürs Auge, wie meine Mutter immer gesagt hat.«
»Hat er mit Ihnen geflirtet?«
»Nein.«
»Sich an Sie herangemacht?«
»Nein, nein, nein. Dr. Sheehan ist ein guter Arzt.«
»Und an dem Abend?«
»An dem Abend?« Sie dachte kurz nach. »Da ist nichts Ungewöhnliches passiert. Wir haben gesprochen über, ähm, über den Umgang mit der Wut, nicht? Rachel hat sich über den Regen beschwert. Und Dr. Sheehan ist gegangen, kurz bevor sich die Gruppe auflöste. Mr. Ganton hat uns auf unsere Zimmer gebracht, wir sind ins Bett gegangen, und das war’s.«
Unter »sie lügt« schrieb Teddy »instruiert« in sein Notizbuch und schlug es zu.
»Das war’s schon?«
»Ja. Am nächsten Morgen war Rachel fort.«
»Erst am nächsten Morgen?«
»Ja. Als ich aufwachte, hat man mir erzählt, dass sie geflüchtet ist.«
»Aber in der Nacht, so um Mitternacht, da haben Sie doch auch was gehört, nicht?«
»Was hab ich gehört?« Sie drückte die Zigarette aus und wedelte den Rauch zur Seite.
»Die Unruhe. Als die Flucht entdeckt wurde.«
»Nein, ich –«
»Es wurde gerufen, geschrien, die Wärter kamen hereingelaufen, die Alarmglocken schrillten.«
»Ich dachte, das hätte ich geträumt.«
»Geträumt.«
Schnell nickte sie. »Ja, ja. Ein Albtraum.« Sie sah Chuck an. »Könnte ich ein Glas Wasser bekommen?«
»Sicher.« Chuck stand auf und sah sich um. Im hinteren Bereich der Kantine stand ein Stapel Gläser neben einem Apparat aus Edelstahl.
Einer der Pfleger machte Anstalten, sich zu erheben. »Ist was, Marshal?«
»Hol nur ein Glas Wasser. Schon gut.«
Chuck ging zum Spender, nahm ein Glas und überlegte kurz, aus welchem Hahn Milch und aus welchem Wasser kam.
Als er den Spender hochdrückte, einen schweren Knauf, der wie ein Pferdehuf geformt war, griff Bridget Kearns nach Teddys Notizblock und Stift. Sie schaute ihm unentwegt in die Augen, blätterte zu einer freien Seite, schrieb blind etwas hinein, schlug das Deckblatt wieder darüber und schob das Notizbuch und den Stift zu Teddy zurück.
Teddy sah sie fragend an, aber sie senkte den Blick und strich gedankenverloren über ihre Zigarettenschachtel.
Chuck kam mit dem Wasserglas und setzte sich. Bridget leerte das Glas zur Hälfte. Dann sagte sie: »Vielen Dank. Haben Sie noch Fragen? Ich bin irgendwie müde.«
»Haben Sie mal einen Patienten namens Andrew Laeddis kennen gelernt?«, fragte Teddy.
Ihr Gesicht war ausdruckslos. Sie verzog keine Miene. Es sah aus, als sei ihre Haut aus Alabaster. Ihre Hände lagen flach auf dem Tisch, als drohte der Tisch an die Decke zu schweben, wenn sie die Hände fortnahm.
Teddy hatte keine Ahnung, warum, aber er hätte schwören können, dass sie kurz davor war zu weinen.
»Nein«, sagte sie. »Noch nie gehört.«
»Du meinst, sie war instruiert?«, fragte Chuck.
»Du nicht?«
»Na ja, es klang schon ein bisschen aufgesetzt.«
Sie standen unter dem überdachten Gang, der Ashecliffe mit Station B verband. Inzwischen waren sie unempfindlich gegen den Regen, gegen die Tropfen auf ihrer Haut.
»Ein bisschen? Sie hat mehrmals genau denselben Wortlaut benutzt wie Cawley. Als wir gefragt haben, um was es in der Therapiegruppe ging, hat sie kurz innegehalten und dann gesagt: ›über den Umgang mit der Wut, nicht?‹ Als ob sie nur geraten hätte. Als ob sie an einem Quiz teilnimmt und in der letzten Nacht so viel wie möglich auswendig gelernt hätte.«
»Und was hat das zu sagen?«
»Wenn ich das wüsste«, sagte Teddy. »Ich habe nichts als Fragen. Jede halbe Stunde kommen dreißig neue dazu.«
»Stimmt«, sagte Chuck. »Hey, ich hab auch ’ne Frage an dich: Wer ist Andrew Laeddis?«
»Ist dir nicht entgangen, was?« Teddy zündete sich eine der Zigaretten an, die er beim Poker gewonnen hatte.
»Du hast jeden Patienten danach gefragt.«
»Ken und Leonora Grant nicht.«
»Teddy, die wussten nicht mal, auf welchem Planet wir sind.«
»Stimmt.«
»Ich bin dein Kollege, Chef.«
Teddy lehnte sich gegen die Steinmauer, Chuck tat es ihm gleich. Teddy schaute Chuck an.
»Wir kennen uns noch nicht lange«, sagte er.
»Aha, du traust mir nicht.«
»Ich vertraue dir, Chuck. Wirklich. Aber ich spiele nicht
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