Sie kamen bis Konstantinopel
die Fahrt«, sagte er und stand auf. »Ich gehe jetzt beten.«
»Auch für mein Seelenheil?«, fragte Kevin und kniff ein Auge zu.
»Ja«, Padraich musste lachen. »Dafür ganz besonders! Gute Nacht.«
***
Als er am nächsten Morgen aufbrach, schlief Kevin noch. Der Wirt bedauerte es sehr, dass der heilige Mann schon weiterziehen wollte, und drängte ihm einen Beutel mit frischem Brot und einem großen Käse als Wegzehrung auf. Padraich hatte ein schlechtes Gewissen, fühlte sich jedoch zugleich wunderbar erholt und musste sich eingestehen, noch nie so gut geschlafen zu haben. Während er die Landstraße entlangschritt, sann er immer wieder über Kevins Reden und dessen Behauptung nach, dass er noch viel lernen müsse. Hatte der Barde Recht oder war es nur der böse Geist, der ihm solche Gedanken einflüsterte? Fand er sich nicht geborgen in der Heiligen Schrift? Zuletzt verdrängte er die Gedanken und wiederholte mehrfach laut: »Gott wird mich leiten, mit seiner Hilfe werde ich es schaffen!«
Im Kloster Clonfert blieb er zwei Tage auf Einladung des Abtes, dem er das Buch mit Brendans Reisen überbracht hatte. Täglich betete er lange am Grab des heiligen Seefahrers und musste dabei an Kilian denken. Ob Gott ihn in das Land der ewigen Jugend geführt hatte? Oder ob das kleine Boot irgendwo in der unendlichen Wasserwüste leckgeschlagen und von den Wellen verschlungen worden war? Er schloss ihn in seine Fürbitten ein, ebenso seinen Vater, dessen Gesichtszüge in seiner Erinnerung immer mehr verblassten.
Eine Tagesreise entfernt lag Clonmacnoise, eine wahre Klosterstadt mit über tausend Mönchen. Auch hier wurde er freundlich aufgenommen und im Gästehaus untergebracht. Da er ein Schreiben seines Abtes vorwies, durfte er die Bibliothek benutzen, verglichen mit deren Ausmaßen ihm alles winzig erschien, was er bisher gesehen hatte. Eine große Halle erstreckte sich vor seinen Augen, gefüllt mit Pfostenreihen, an denen Lederbeutel hingen. Sie waren außen beschriftet, so dass man sofort erkennen konnte, welche Manuskripte sie enthielten. An einigen Tischen saßen Mönche, die Pergamentbögen glatt schabten und weiß grundierten. Ein Stück weiter tunkten andere ihre Federn in mit Tinte gefüllte Kuhhörner, um sorgfältig die zu kopierenden Texte abzuschreiben, während einige besonders Begabte damit beschäftigt waren, einzelne Seiten mit wundersam verschlungenen Ornamenten zu verzieren.
Padraich erkundigte sich bei einem kleinen, sommersprossigen Novizen nach Büchern über Britannien, dem nächsten Ziel seiner Reise. Als ihn der Junge fragte, ob er Gildas' Schriften kenne, musste er verneinen, so dass ihm der Bibliotheksgehilfe bald einen kleinen Codex in die Hand drückte.
»Über den Niedergang Britanniens«, las Padraich, suchte sich einen freien Platz und schlug die vor einem guten Jahrhundert verfasste lateinische Chronik auf. Mit einem Male erstand aus den Reihen schwarzer Buchstaben eine Welt des Untergangs, von der er noch nie gehört hatte und die ihn in ihren Bann schlug. Er las vom einstigen Wohlstand Britanniens unter den Römern, die eine große Mauer zum Schutz vor den Barbaren des Nordens erbaut hatten, bevor sie die Provinz verließen. Er las, wie dennoch die wilden Pikten einfielen, und dass ein Bittbrief der Städte nach Rom, doch wieder Legionen zu entsenden, vergebens blieb. Er las, wie Voltigera, ein verblendeter Anführer der Britannier, zur Verteidigung sächsische Söldner anwarb, die mehr und mehr von ihresgleichen ins Land holten. Er las, wie die Forderungen dieser Seewölfe immer dreister wurden, wie sie zu plündern begannen, Frauen, Kinder und Priester erschlugen, die Altäre zertrümmerten und die Städte in Brand steckten. Er las, wie die verzweifelten Menschen sich schließlich um einen Britannier römischer Abstammung namens Ambrosius Aurelianus scharten, dem es mit Gottes Hilfe gelang, den Vormarsch der Sachsen zurückzuschlagen. Gefesselt folgte er Gildas' Klage darüber, wie schnell anschließend all die Schrecken vergessen gewesen waren, ja dass sich weder der gottlose Sinn der Fürsten noch der lasterhafte Lebenswandel der Priester gebessert habe, obgleich, wie der fromme Mann anhand zahlloser Bibelstellen nachwies, Gottes Strafgericht gewiss sei.
Als er das Buch erschüttert aus der Hand legte, war der Abend schon hereingebrochen und die Glocke rief zum Gebet. Nach dem schweigend eingenommenen Nachtmahl ging Padraich hinunter zu dem Fluss, der sich unweit des
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