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Titel: Sie sehen dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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sich einfach daran gewöhnt, nicht zu reagieren. War das Teil des Problems? War sie als Mutter zu schwach? War sie zu nachsichtig? Ron hatte ihr das manchmal vorgeworfen. Sie ließe zu viel durchgehen. War es das gewesen? Wäre Spencer, wenn sie ihn strenger erzogen hätte …
    Sehr viele Wenns.
    Die sogenannten Experten sagten, dass Eltern nicht schuld seien, wenn Teenager sich umbrachten. Es sei eine Krankheit. Wie Krebs oder so etwas. Aber selbst die Experten betrachteten sie mit einem gewissen Misstrauen.
    Warum war er nicht regelmäßig zur Therapie gegangen? Warum hatte sie, seine Mutter, die Veränderungen, die in Spencer
vorgegangen waren, einfach als typische Teenagerlaunen abgetan?
    Sie hatte gedacht, er würde da rauswachsen. Das machten Teenager schließlich normalerweise.
    Sie ging ins Wohnzimmer. Es brannte kein Licht, nur der fahle Schein vom Fernseher strahlte die Zwillinge an. Sie sahen sich absolut nicht ähnlich. Es war eine künstliche Befruchtung gewesen. Spencer war neun Jahre lang ein Einzelkind gewesen. Hatte es auch mit daran gelegen? Sie dachten, es würde ihm helfen, wenn er einen Bruder oder eine Schwester bekäme. Aber wünscht sich ein Kind nicht einfach die dauernde und vor allem ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Eltern?
    Die Gesichter reflektierten das Flimmern des Fernsehers. Vor der Glotze sahen alle Kinder hirntot aus. Der schlaff herunterhängende Unterkiefer, die viel zu weit aufgerissen Augen  – ein furchtbarer Anblick.
    »Sofort«, sagte sie.
    Immer noch keine Bewegung.
    Tick, tick, tick … Dann explodierte Betsy. »SOFORT, habe ich gesagt!«
    Der Schrei weckte die Zwillinge aus ihrer Lethargie. Betsy ging zum Fernseher und schaltete ihn aus.
    »Ich hab gesagt, es gibt Abendessen! Wie oft soll ich euch denn noch rufen?«
    Die Zwillinge huschten schweigend in die Küche. Betsy schloss die Augen und versuchte, tief durchzuatmen. So war sie. Erst ganz ruhig, und irgendwann ging sie dann in die Luft. So viel zu Stimmungsschwankungen. Vielleicht war es erblich. Vielleicht war Spencer schon vor seiner Geburt dem Untergang geweiht gewesen.
    Sie setzten sich an den Tisch. Betsy ging hinüber und rang sich ein künstliches Lächeln ab. Ja, es war alles wieder gut. Sie stellte das Essen vor sie und versuchte, ein paar Worte mit ihnen zu reden.
Ein Zwilling reagierte, der andere nicht. Das ging seit Spencers Tod so. Der eine verarbeitete es, indem er versuchte, das Ganze zu ignorieren, der andere schmollte.
    Ron war nicht zu Hause. Schon wieder nicht. Manchmal kam er abends von der Arbeit, fuhr den Wagen in die Garage und blieb dann darin sitzen und weinte. Manchmal fürchtete Betsy, dass er den Motor laufen lassen, das Garagentor schließen und dem Beispiel seines einzigen Sohns folgen würde. Dem Schmerz ein Ende setzen. Darin lag eine bittere Ironie. Ihr Sohn hatte sich das Leben genommen, und man konnte den daraus resultierenden Schmerzen am schnellsten ein Ende setzen, indem man es ihm nachtat.
    Ron sprach nicht über Spencer. Zwei Tage nach Spencers Tod hatte Ron Spencers Stuhl aus der Küche in den Keller gebracht. Die Kinder hatten alle einen Spind mit ihren Namen drauf. Ron hatte Spencers Namen abgenommen, die Sachen weggepackt und irgendwelchen Krempel hineingetan. Aus den Augen …, hatte sie gedacht.
    Betsy ging anders damit um. Gelegentlich versuchte sie, sich in andere Projekte zu stürzen, aber die Trauer machte alles extrem anstrengend, fast so wie in den Träumen, in denen man durch tiefen Schnee rannte, wo einem jede Bewegung so schwer fiel, als würde man in Sirup schwimmen. Manchmal, wie jetzt gerade, wollte sie einfach nur in ihrer Trauer versinken. Dann erfasste sie eine Art masochistische Sehnsucht, und sie hoffte fast, dass ihre Welt noch einmal einstürzte und sie unter sich zerquetschte.
    Sie räumte den Tisch ab und brachte die Zwillinge ins Bett. Ron war noch nicht zu Hause. Das war in Ordnung. Sie stritten sich nicht  – seit Spencers Tod hatte sie nicht einen einzigen Streit mit Ron gehabt. Sex auch nicht. Nicht ein Mal. Sie lebten unter demselben Dach, sprachen noch miteinander, liebten sich sogar noch, trotzdem hatten sie irgendwo einen Trennstrich gezogen, als wäre jede Form von Zärtlichkeit einfach unerträglich.

    Der Computer war an, und der Internet Explorer war geöffnet. Betsy setzte sich davor und gab die Adresse ein. Sie dachte an ihre Nachbarn und Freunde und deren Reaktionen auf den Tod ihres Sohns. Bei Selbstmord war das wirklich

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