Sie sehen dich
gekauft … Na ja, das kennen Sie ja bestimmt.«
»Ist uns auch schon passiert.«
Nash hielt die Anleitung hoch und schüttelte den Kopf. »Ob Sie da vielleicht mal kurz einen Blick reinwerfen könnten?«
Reba zögerte. Das merkte er. Eine instinktive Reaktion – fast ein Reflex. Er war schließlich ein Fremder. Und sowohl die Biologie als auch die Gesellschaft sagten uns, dass wir Angst vor Fremden haben sollten. Andererseits hat die Evolution uns auch eine soziale Ader mitgegeben. Sie befanden sich auf einem öffentlichen Parkplatz, und er schien ein netter Mann zu sein, ein Familienvater mit allem was dazugehörte, der es nicht schaffte, einen Kindersitz einzubauen, so dass es einfach unhöflich gewesen wäre, ihm die Hilfe zu verweigern, oder?
Für diese Überlegungen brauchte sie höchstens zwei oder drei Sekunden, und am Ende siegte die Höflichkeit über den Überlebenstrieb.
Wie so oft.
»Selbstverständlich.«
Sie stellte ihre Plastiktüten in den Kofferraum und kam zu ihm herüber. Nash beugte sich in seinen Lieferwagen. »Ich glaub, es ist nur dieser eine Riemen hier drüben …«
Reba kam näher. Nash richtete sich auf und machte ihr Platz. Er sah sich um. Der Dicke mit dem Jerry-Garcia-Bart und dem Batikhemd watschelte immer noch zum Eingang, aber der würde sowieso nichts merken, solange nicht ein Donut ins Spiel kam. Und manchmal war das beste Versteck wirklich da, wo einen alle sehen konnten. Ganz ruhig, keine Panik, nur kein Aufsehen erregen.
Reba Cordova beugte sich in den Lieferwagen und besiegelte damit ihr Schicksal.
Nash studierte ihren Nacken. Er brauchte nur Sekunden. Dann griff er hinein, legte ihr eine Hand über den Mund und drückte mit der anderen auf einen bestimmten Punkt hinter den Ohrläppchen. So unterbrach er den Blutfluss zum Gehirn.
Gerade mal ein paar Sekunden lang trat sie mit den Beinen
nach hinten aus. Nash erhöhte den Druck, und Reba Cordova wurde ruhig. Er schob sie ganz in den Wagen, sprang dann hinter ihr hinein und schlug die Tür zu. Pietra kam hinterher. Sie schlug die Tür des Acura zu. Nash nahm Reba den Schlüssel aus der Hand. Mit der Fernbedienung verriegelte er die Türen. Pietra setzte sich auf den Fahrersitz des Lieferwagens.
Sie ließ ihn an.
»Moment«, sagte Nash.
Pietra sah ihn an. »Sollten wir nicht so schnell wie möglich weg hier?«
»Immer mit der Ruhe.«
Er überlegte kurz.
»Was ist?«
»Ich fahr mit dem Lieferwagen«, sagte er. »Du nimmst ihren Acura.«
»Was? Wieso?«
»Wenn wir ihn hierlassen, wissen sie, dass sie hier entführt worden ist. Wenn wir den Wagen mitnehmen, verwirrt sie das vielleicht.«
Er gab Pietra Rebas Autoschlüssel. Dann fesselte er Reba mit den Kabelbindern unten an den Autositz. Er schob ihr ein Tuch in den Mund. Sie fing an, sich zu wehren.
Er nahm ihr zierliches Gesicht in beide Hände, als wollte er ihr einen Kuss geben.
»Wenn Sie abhauen«, sagte er und sah ihr direkt in die Puppenaugen, »hol ich mir Jamie. Und das wird dann richtig hässlich. Haben Sie mich verstanden?«
Reba erstarrte, als sie den Namen ihrer Tochter hörte.
Nash kletterte auf den Vordersitz. Er sagte zu Pietra: »Folg mir einfach. Und fahr ganz normal.«
Pietra stieg in den Acura, und sie machten sich auf den Weg.
Mike versuchte, sich mit Hilfe seines iPods zu entspannen. Abgesehen vom Eishockey war das sein einziges Ventil. Aber so richtig abschalten konnte er nicht. Er war gerne bei seiner Familie, arbeitete gerne und spielte gerne Eishockey. Nur dass mit dem Eishockey irgendwann in näherer Zukunft Schluss sein würde. Er kam langsam in die Jahre. Es fiel ihm schwer, sich das einzugestehen. Bei der Arbeit stand er stundenlang am Operationstisch. Das Eishockey hatte ihm geholfen, fit zu bleiben. Fürs Herz-Kreislauf-System war es wahrscheinlich immer noch gut, aber sein Körper spielte nicht mehr mit. Die Gelenke schmerzten, und er litt häufiger und länger unter Zerrungen und kleineren Prellungen.
Zum ersten Mal hatte Mike das Gefühl, dass es auf der Achterbahn des Lebens mit ihm bergab ging – die Back Nine, wie seine Golf spielenden Freunde sagten. Natürlich wusste jeder, dass er älter wurde. Mit fünfunddreißig oder vierzig wusste man irgendwie, dass man körperlich nicht mehr der Gleiche war wie früher. Aber bisher hatte er es erfolgreich verdrängt. Jetzt, im zarten Alter von sechsundvierzig Jahren, wurde ihm bewusst, dass diese Talfahrt nicht nur weitergehen, sondern sich auch noch beschleunigen
Weitere Kostenlose Bücher