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Titel: Sie sehen dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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Pochen in seinen Schläfen verwandelte sich in Hammerschläge. Er hob die Hand und drückte seitlich gegen den Kopf, als ob er den Schmerz damit im Zaum halten könnte.
    Blinzelnd sah er auf die Leuchtstoffröhre an der weißen Decke. Neben ihm wurde weiter auf Spanisch gebetet. Ein bekannter Geruch erfüllte den Raum, die Kombination aus scharfen Reinigungsmitteln, Körpersäften, siechendem Fleisch und der absoluten Abwesenheit von Frischluft. Mikes Kopf fiel nach links. Er sah den Rücken einer Frau, die sich über ein Bett beugte. Ihre Finger huschten über die Perlen des Rosenkranzes. Ihr Kopf schien auf einer Männerbrust zu liegen. Sie betete und schluchzte abwechselnd  – manchmal auch gleichzeitig.
    Er wollte die Hand ausstrecken und ein paar beruhigende Worte sagen. Wie immer ganz Arzt. Aber er hatte eine Infusion im Arm, und langsam dämmerte ihm, dass er auch Patient war. Er versuchte, sich zu erinnern, was passiert und wie er hier reingekommen war. Es dauerte eine Weile. Er musste sich durch die dichten Nebelschwaden in seinem Kopf kämpfen.
    Beim Aufwachen hatte er ein furchtbares Unbehagen verspürt.
Er hatte es beiseitegeschoben, aber jetzt musste er es wieder an sich heranlassen, um die Erinnerung wiederzufinden. Und damit war auch sofort das Mantra wieder da, das jetzt allerdings nur noch aus einem Wort bestand.
    Adam.
    Auch die anderen Erinnerungen kehrten zurück. Er war auf der Suche nach Adam gewesen. Er hatte mit diesem Türsteher  – Anthony  – gesprochen. Er war in die Gasse gerannt. Da war diese schaurige Frau mit der furchtbaren Perücke gewesen …
    Er hatte ein Messer gesehen.
    Hatte er einen Stich abbekommen?
    Er glaubte nicht. Er drehte den Kopf zur anderen Seite. Noch ein Patient. Ein Schwarzer, der die Augen geschlossen hatte.
    Mike hielt nach Tia oder einem anderen Verwandten Ausschau, sah aber keinen. Das fand er nicht weiter verwunderlich  – wahrscheinlich war er nur kurz bewusstlos gewesen. Vermutlich hatte das Krankenhaus Tia angerufen, die ja in Boston war und eine Weile brauchte, bis sie hier war. Jill war bei den Novaks. Und Adam …?
    Wenn Patienten im Film aus einem Koma aufwachten, lagen sie in Einzelzimmern, und ein Arzt oder zumindest eine Schwester lächelten auf sie herab, als ob sie die ganze Nacht in dieser Haltung darauf gewartet hätten, und beantworteten alle erdenklichen Fragen. Mike entdeckte niemanden vom medizinischen Personal. Er kannte das Verfahren. Er suchte nach dem Kabel mit dem Schwesternruf, sah, dass es ums Bettgitter geschlungen war und drückte die Ruftaste.
    Es dauerte eine Weile. Er konnte nicht sagen, wie lange, merkte nur, dass die Zeit stillzustehen schien. Die Stimme der betenden Frau verstummte. Sie stand auf und wischte sich über die Augen. Jetzt konnte Mike den Mann sehen, der im Bett lag. Er war deutlich jünger als die Frau. Mutter und Sohn, dachte er. Er fragte sich, aus welchem Grund sie hier waren.

    Mike sah aus dem Fenster. Die Jalousien waren geöffnet, und die Sonne schien. Es war Tag.
    Als er das Bewusstsein verlor, war es Nacht gewesen. Also mussten mehrere Stunden vergangen sein. Oder sogar Tage? Er wusste es nicht. Er drückte noch einmal auf die Ruftaste, obwohl er wusste, dass das nichts brachte. Panik ergriff ihn. Das Pochen in seinem Kopf wurde immer stärker  – irgendjemand bearbeitete seine rechte Schläfe mit einem Presslufthammer.
    »Na sieh mal einer an.«
    Er sah zur Tür. Die Schwester, eine stark gebaute Frau mit einer Brille, die vor ihrer großen Brust pendelte, kam auf ihn zu. Auf ihrem Namensschild stand Bertha Bondy. Sie sah ihn an und runzelte die Stirn.
    »Willkommen in der freien Welt, Sie Schlafmütze. Wie fühlen Sie sich?«
    Mike brauchte ein paar Sekunden, bis er etwas herausbekam. »Als ob ich mit einem Mack-Lkw geknutscht hätte.«
    »Das wäre wahrscheinlich gesünder gewesen als das, was Sie gemacht haben. Wollen Sie etwas trinken?«
    »Ich bin völlig ausgetrocknet.«
    Bertha nickte und nahm einen Becher mit Eis. Sie hob ihn an seine Lippen. Das Eis schmeckte nach Krankenhaus, fühlte sich im Mund aber trotzdem gut an.
    »Sie sind im Bronx Lebanon Hospital«, sagte Bertha. »Können Sie sich erinnern, was passiert ist?«
    »Ich wurde überfallen. Von mehreren Männern, glaube ich.«
    »Hm, hm. Wie heißen Sie?«
    »Mike Baye.«
    »Könnten Sie Ihren Nachnamen buchstabieren?«
    Er machte es, und weil er vermutete, dass damit vor allem sein aktueller Geisteszustand geprüft werden

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